Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
sagt er, wischt Papierstaub von seinem Overall und steckt mir für sie ein paar titelseitenlose Zeitschriften zu. Dann wendet er sich wieder den Büchern zu.
*
Helgi hat Schulschluss. Zur verabredeten Zeit kommt er in den Verlag.
Hast du gut hergefunden?, frage ich.
Ich habe den Bus genommen, der Busfahrer hat mir Geld geliehen, ich soll es ihm zurückgeben, wenn ich einmal reich bin.
Entschlossen greift er nach meiner Hand, er rechnet damit, dass wir gleich wieder aus dem Haus gehen. Als ich ihm sage, dass ich ein Klavier gefunden habe, einen kleinen Flügel sogar, umfasst er meine Hand noch fester und lächelt so breit, dass er im ganzen Gesicht Falten bekommt. Wo denn?
In dem Café, wo meine Mutter immer hingeht. Die haben da ein Klavier, und sie meint, dass du dort bestimmt am Wochenende üben kannst. Wir gehen nachher an dem Café vorbei, dann weißt du schon mal, wo es ist.
Fett, sagt Helgi und bläst sich den Pony von den Meeresblauaugen. Aber kannst du dem Lehrer sagen, dass ich krank bin – wenn ich bis Montag nicht genug üben kann?
Wir wollen mal hoffen, dass dein Papa bis dahin zurück ist.
Schnee treibt vor der Sonne, als wir hinausgehen. Wir kneifen unsere Lider zusammen, um die Augen vor dem Schnee und dem Licht zu schützen, das schneidend ist. Das Meer kräuselt sich kobaltblau, während der Berg Esja seine Kleider wechselt: grau, blau, violett. Die Berggipfel stechen durch das Nebelgrau, beleuchtet von Sonnenstrahlen, während schmutzigweiße Wolken über den Himmel treiben. Bald wird es dämmern, Zwielicht mischt sich in das Grau, es wartet eine schwarze Nacht.
So lebendig wechselt Reykjavík immer wieder seine Farben, obwohl das Stadtzentrum eher an eine Geisterstadt erinnert mit seinen ausgestorbenen Straßen, umzingelt von Wellblechhäusern und stillosen Mehrfamilienhäusern mit einer schlafenden Katze in jedem zweiten Fenster.
Aus einem Kiosk dringt der Geruch von heißen Würstchen, die Luft riecht sauer, aber daran habe ich mich gewöhnt, ebenso wie an den Feinstaub, den ein die Straße herunterbretternder Geländewagen ausstößt. Ich höre auf, an Umweltverschmutzung zu denken, sauge die Welt in meine Lunge ein, und wir gehen schneller. Dabei gibt es kaum etwas Schöneres, als im Winter auf dem Laugavegur unterwegs zu sein, wenn das Leben tobt, doch das passiert selten, höchstens freitagabends, da versuche ich mir immer vorzustellen, dass meine Stadt so wäre wie andere Städte: voller Leben.
Endlich taucht Mamas Café in einem verwitterten Eckhaus mit Wellblechdach vor uns auf; da ist immer etwas los, trotz der Ödnis, die es umgibt. Wahrscheinlich ist Mama jetzt dort und diskutiert mit Ásta und Þórdur. Fröhliche Stimmen dringen aus einem Fenster. Ódinn Valdimarssons Lieder laufen in dem Café den ganzen Tag, außer an den Wochenenden, wenn die Gäste sich selber jazzend ans Klavier setzen oder singen. Dort, in dem Zeitungskorb im Arne-Jacobsen-Stil, liegen noch die alten Zeitschriften der Arbeiterbewegung. Dort drinnen klingen Porzellantassen und die Portweingläser aus hellgrünem Kristall, das so dünn ist wie Schmetterlingsflügel, Zigarrenrauch zieht durch die wehenden Gardinen in den sonnenklaren Frost. Mittags wird dort gestampfter Fisch mit Kartoffeln serviert oder Schweinekoteletts mit roter Marmelade, Rotweinsauce und karamellisierten Kartoffeln. Manche nehmen sich mit Silberlöffeln französischen Senf aus Tontöpfen dazu, bevor alle Sahnequark und dünne Pfannkuchen zum Nachtisch bekommen. Nachmittags tupfen die Gäste, noch satt vom Mittagessen, mit Stoffservietten den Zucker von ihrem Schmalzgebäck. Da sitzen die Intellektuellen. Wie Mama. Diskutieren über Schafsverbiss. Und Gleichberechtigung. Literatur, Demokratie, das Neueste aus den Klatschblättern, abstrakte Malerei, Gewerkschaften und Strickmuster. Das Leben ist wohl doch ganz in Ordnung. Die Brüder speisen manchmal dort, sagt Mama und hat sogar mal behauptet, sie sympathisch zu finden, trotz ihres protzigen Auftretens in ihren Burberry-Westen. Vielleicht sind sie jetzt gerade dort und paffen ihre Zigarren.
Gehen wir hinein?, fragt Helgi mit hoher Stimme.
Später, sage ich und grinse. Später, später.
Als wir bei uns zur Haustür hereinkommen, fragt er mich, ob ich die bösen Männer gesehen habe.
Was für Männer?, frage ich.
Ich glaube, auf dem Laugavegur haben uns drei Männer verfolgt, sagt er. Die haben uns die ganze Zeit angestarrt, und als wir in Richtung Þingholt abgebogen sind,
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