Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
schon geschlafen hast, habe ich den Wetterbericht gehört, und der Wettermann hat gesagt, dass das Wetter bei Papa weiter schlecht ist, sagt Helgi und fügt mit ernstem Gesichtsausdruck hinzu: Also glaube ich nicht, dass er heute kommt. Und wo soll ich eigentlich Klavier üben? Ich sollte nicht unvorbereitet zur Klavierstunde erscheinen.
Verdammter Mist, das habe ich ja völlig vergessen. Auf die Schnelle fällt mir niemand ein, der ein Klavier hat, aber ich verspreche ihm, dass ich mir etwas überlege. Wir einigen uns darauf, dass er nach der Schule zu mir ins Büro kommt, das müsste er ja jetzt eigentlich finden. Dann fällt mir ein, dass die nasse Wäsche noch in der Maschine liegt, ich bin eingeschlafen, während sie gestern durchgelaufen ist – wir haben also wieder nichts Sauberes zum Anziehen, außer, ich schmeiße die Sachen jetzt sofort in den Trockner, sage ich genervt.
Er zeigt Verständnis.
Dann öffnet er seinen Rucksack, holt Malheft und Buntstifte heraus und macht es sich auf dem Sofa gemütlich, während unsere Sachen im Trockner herumwirbeln.
Im Schlafzimmer nutze ich die Zeit, um mein maßgeschneidertes Bärenkostüm anzuprobieren. Schnaufend zwänge ich mich in den groben Nylonstoff, meine Haut fängt an zu jucken, ich schwitze, das Kostüm ist viel zu warm. Ich vollführe die wildesten Verrenkungen, um den Bärenkopf überzuziehen, schließlich gelingt es mir, und ich habe sofort das Gefühl zu ersticken.
Einatmen-ausatmen-einatmen-ausatmen-einatmen-ausatmen, ich torkele durch das Schlafzimmer, ohne etwas zu sehen. Die Stoff-Augenlider sind heruntergerutscht, ich probiere lange herum, wie ich sie offen halten kann, dann komme ich endlich darauf, sie mit Sicherheitsnadeln an den Augenbrauen zu befestigen. Lasse mich auf die Bettkante fallen, um zu Atem zu kommen, traue mich kaum, wieder aufzustehen.
In meiner Ratlosigkeit sehe ich mir den Buchstapel auf dem Nachttisch an, die Bücher, die ich verkaufen muss, aber in der Dezemberhektik bisher nicht lesen konnte. Ganz oben liegt das Kinderbuch Strindbergs Hölle ist der Himmel für Pu den Bären . Allein schon der Titel macht das Buch in Verbrauchermärkten nahezu unverkäuflich. Was ist mit dem Inhalt?
Der strotzt nur so vor Optimismus. Als ich das Buch auf Seite 68 öffne, sehe ich ein Bild von einem zerzausten Mann, der sich mit Pu unterhält, wahrscheinlich ist es der Erzähler von Inferno .
Ich fange einfach irgendwo an zu lesen:
Das Elend ist dem Glück auf den Fersen. In der Not verbirgt sich das Glück. Wer wird am Schluss die Oberhand gewinnen?
… liest das Ich aus dem Buch vor, während die beiden zu einer Insel weit draußen an der Schärenküste der Ostsee fahren. Das Ich sieht Pu mit verzweifeltem Blick an. Der antwortet mit einem bärigen Lächeln: Die Honigbienen haben den Honig gemacht, damit wir ihn essen können. Vergiss dich doch mal für eine Weile, liebes Ich, und genieße, wie der schneeweiß-süße Geschmack sich über dein Ich breitet wie eine glatt gebügelte weiße Schneedecke über einen Berggipfel.
Wer von uns hat bloß dieses Buch eingekauft?, seufze ich schweißgebadet und lasse es aufs Bett fallen, in dieser Montur wird schon die kleinste Bewegung zur Schwerstarbeit. Ich quäle mich aus ihr heraus, bevor Helgi mich so sieht. Bald ist auch der Trockner fertig.
*
Was für eine Erleichterung, die steifen Jeans und einen Pullover anziehen zu können, der nach dem Apfelduftwaschmittel riecht. Helgi trödelt beim Anziehen, so dass ich noch mal kurz ins Internet kucken kann.
Arndís wird immer noch vermisst, und die Polizei bringt nochmals ein Bild von den Männern: Drei schwarzhaarige Typen hocken mit einem wolfsähnlichen Hund auf einer ausgedörrten Waldlichtung, einer hat ein Gewehr.
Ich sehe genauer hin, der Mann rechts auf dem Bild kommt mir merkwürdig bekannt vor. Was bilde ich mir denn jetzt schon wieder ein? Habe ich den etwa schon einmal gesehen?
Was für ein Quatsch, herrsche ich mich an, klicke auf den Vorbericht über die Eröffnung des größten Verbrauchermarktes des Landes und sehe mir das Programm an: Es liest sich wie ein Who’s Who der bekanntesten Künstler von ganz Island, hier wird offensichtlich an nichts gespart. Dann sehe ich ein Foto von Valgardur, wie er im Central Park einen Kaffee aus einem Pappbecher trinkt. Die Bildunterschrift verkündet, dass sein neues Buch auf der Eröffnungsfeier des Verbrauchermarktes zu einem Sonderpreis verkauft wird, der weltberühmte Autor sehe
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