Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
ein Leben lang um Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen gestritten haben: Sie sind nun die Einzigen, denen er sich zugehörig fühlt.
Manchmal kommt mir der Verdacht, dass er eine schützende Hand über den Tante-Emma-Laden hält. Irgendjemand muss es tun, und dieser Jemand ist wohl kaum sein Sohn, der überall Verbrauchermärkte aus dem Boden stampft.
Wer kommt da um die Ecke? Nein, nein. Das ist doch … nur ein Passant. Ich packe Helgis Hand fester.
Atme ein-aus-ein.
*
Kurz vor unserer Reise nach Marokko hatte ich Fatima noch einmal getroffen. Ich ging über den Markt, um mich mit Jordi zu treffen, als sie meinen Namen rief, sie trug das Zitronenkleid und ein dünnes Oberteil mit Rollkragen unter den Trägern mit den Blümchen und hatte eine Stoffschürze um die Taille gewickelt. Durch das schicke Kleid sah man ihren Bauch. Ihr Haar ringelte sich unter dem Kopftuch hervor, Locken legten sich an ihren weißen Hals. In ihrem Bastkorb hatte sie Zwiebeln, Tomaten, Paprika und ein Bund Basilikum.
Ich umarmte sie, sie duftete nach Gewürzen, Früchten und süßlichem Schweiß, dann setzten wir uns in das Café, wo ich mit Jordi verabredet war. Bestellten Apfelsaft und Nüsse. Froh, uns zu sehen. Als sie sich eine Nuss in den Mund warf, sah ich, wie rot und geschwollen ihre Hände von der Arbeit waren. Im Gegensatz zu den Fettpolstern an ihrem Körper waren ihre Hände dünn, die Finger lang wie die einer Pianistin. Sie zerkaute die Nuss, nahm sich eine zweite und fragte, ob wir nicht unseren Mädchenabend wiederholen wollten, sie würde uns gern weitere marokkanische Gerichte beibringen.
Ich sah sie an, während sie mich ansah. Etwas Suchendes lag in ihren Augen, in der dunklen Stimme. Trotz der Grübchen wirkte ihr Gesicht ganz freudlos.
Aber klar, sagte ich mit verkrampfter Stimme und dachte daran, wie verhalten Arndís reagiert hatte, als ich ihr kurz zuvor dasselbe vorgeschlagen hatte. Fatima spürte meine Zweifel, errötete und wechselte das Gesprächsthema, indem sie mich matt, aber entschlossen fragte: Fährst du mit Arndís nach Marokko?
Ja, sagte ich. Hat sie dir davon erzählt?
Das hat sie, sagte Fatima und lächelte wieder, ohne wirklich froh zu wirken. Im Tageslicht zeigte sich die Trauer, die sie alle Tage und Nächte verfolgen musste. Ihr Blick war zerbrechlich. Sie schweifte von einem Thema zum nächsten: Willst du für länger in Barcelona bleiben?
Ja, hoffentlich, sagte ich verwirrt, nahm einen Schluck Apfelsaft, wischte mir den Schweiß vom Hals und fragte, ob es in Tanger etwas Besonderes gebe, das wir uns ansehen sollten.
Ihr werdet da sicherlich einiges sehen, sagte sie mit vielsagendem Gesichtsausdruck, milde und schwermütig zugleich.
Das glaube ich auch, stimmte ich zu. Wir sahen uns in die Augen. Plötzlich bekam ich das Gefühl, sie wolle mir etwas sagen. Mich um Rat bitten. Aber ich traute mich nicht, sie einfach darauf anzusprechen. Sie war so lebenserfahren, so fremd. Sie könnte erschrecken, wenn ich sie aus heiterem Himmel darauf ansprach, dass sie heute so niedergeschlagen wirkte. Und erschrak dann selbst, als sie mich fragte: Hat dein Vater nicht mit deiner Mutter zusammengewohnt?
Was? Nein, sagte ich. Warum fragst du?
Das dachte ich mir schon, sagte sie so offenherzig, dass es mich überraschte. Sie redete wie Mama, stellte direkte Fragen auf der Suche nach bestimmten Antworten.
Er kommt von hier, rutschte es mir da heraus, und in dem Moment fiel mir auf, dass ich kaum noch an ihn gedacht hatte, seit Arndís und Jordi in mein Leben getreten waren. Nun hatte ich mich verplappert. Fatima sah mich so eindringlich an, dass ich aus der Sache nicht mehr herauskam.
Vielleicht ist er einer von diesen Fischhändlern hier auf dem Markt? Mama hat ihn immerhin am Tag des Seemanns kennengelernt. Mehr weiß ich nicht. Eigentlich möchte ich gar nicht über ihn reden, nicht einmal Arndís habe ich gesagt, dass er aus Barcelona kommt. Ich habe ihn immer für mich allein gehabt. So war es am besten. Weißt du, was ich meine?
Ja, sagte sie und bemühte sich, mich nicht zu neugierig anzusehen. Ich wollte etwas sagen, da spürte ich Jordis Hand auf meiner Schulter. Da bist du ja!
Sie verabschiedete sich, als wir uns küssten. Ihre Cousins warteten auf das Gemüse.
*
Im Eingangsbereich des Seniorencafés hängt alles voll mit Werken aus dem goldenen Zeitalter der isländischen Malerei: Kjarval, Svavar, Nína und alle anderen. Die wenigsten Gemälde habe ich vorher schon einmal
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