Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
überkommen mich auch noch Schuldgefühle. Was haben wir eigentlich die ganze Zeit gemacht?
Als das Papier im Müll liegt, geht es mir besser. Ich beschließe, gute Laune zu haben, trotz allem, was gestern passiert ist.
Ein trauriges Kinderlied summend, fülle ich einen Eimer mit möglichst heißem Seifenwasser und gehe in die Knie, wringe einen Feudel aus, atme den Chlorgeruch ein und schrubbe. Mein Summen wird leiser, als Helgi beginnt, sich auf YouTube Aufnahmen von berühmten Pianisten anzuhören. Mir fällt auf, wie lange es her ist, dass Axel und ich mal so hier in der Wohnung herumgepusselt haben, jeder in seiner Ecke, ganz für sich. In letzter Zeit ist die Entfernung zwischen uns beiden so riesig gewesen, manchmal gingen die Kilometer in die Hunderte, manchmal in die Tausende.
*
Helgi sucht seine Noten zusammen, während ich mir etwas Besseres anziehe, eine violette Bluse, eine schwarze Hose und ausgetretene Lederstiefel.
Ich rufe Gardar an. Dieses Mal meldet sich der Anrufbeantworter mit der Nachricht, dass er bis Mitternacht Dienst im Krankenhaus habe. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als Lippenstift und Wimperntusche aufzutragen, wir müssen uns ohnehin beeilen, sind jetzt schon zu spät zu unserer Verabredung mit Mama in ihrem Café. Ich bin sogar ein bisschen aufgeregt, schließlich habe ich es noch nie betreten, nur Bilder davon gesehen, die sie mit ihrem kleinen Fotoapparat gemacht hat.
Helgi ruft mich mit unverhohlener Ungeduld. Komisch, dass ein Zehnjähriger so viel Wert auf das Klavierüben legt.
Als ich aus dem Bad komme, ist er schon komplett angezogen, ich werfe mir eine rote Jacke über und sage ihm, er solle eine Mütze aufsetzen. Der trotzige Blick, den er mir zuwirft, sagt mir, dass wir nun keine Unbekannten mehr sind. Ich fahre herum, sehe in den Garderobenspiegel, knöpfe mir die Jacke bis zum Hals zu und wiederhole meine Anweisung etwas bestimmter. Er stöhnt. Gehorcht.
Auf dem Weg nach draußen sagt er, dass seine Mutter Axel Geld für die Klavierstunden geliehen habe, das dieser bald zurückzahlen müsse. Wenn sie ihm nichts geliehen hätte, könnte er jetzt gar keine Klavierstunden nehmen. Aber sein Vater müsse es bald bezahlen, denn seine Mutter muss ohnehin schon so viel arbeiten. Er darf das nicht vergessen. Hast du gehört, Sunna?
Tja, sage ich und ziehe die Tür zu. Manchmal ist tja die einzig richtige Antwort.
*
Am Himmel fliegen Wolkenfetzen vorbei. Wir gehen schnell. Bumm, dunkti, bumm, hämmert mein Herz jedes Mal, wenn ich mich nach den drei Männern umsehe. Hoffentlich haben sie eingesehen, dass von mir nichts zu erfahren ist. Der eisige Wind schneidet durch meine dünne Jacke, Kälteschauer durchfahren mich, meine Brustwarzen brennen, als wir uns endlich dem Café nähern.
Ich könnte mich schwarz ärgern, dass ich mir nicht selbst eine Mütze aufgesetzt habe, und beschleunige meinen Schritt, so dass Helgi fast laufen muss.
Echt bescheuert, dass wir kein Auto haben. Niemand ist heute zu Fuß unterwegs, nicht einmal die unheimlichen Männer. Die Straßen sind leergefegt, sowohl der Laugavegur als auch die kleinen Querstraßen. Das Einzige, was sich bewegt, ist der Müll, der durch die Straßen weht, und die schnell treibenden Wolken über unseren Köpfen, auf deren Bewegungen ich achte, seit Helgi über sie geredet hat. Die verlassenen Geschäfte erinnern an leere Käfige im Zoo: Die Tiere dösen vor der Wiederholung einer Reality-Show und wärmen das Sonntagsessen auf, das sie fertig zubereitet vor dem Wochenende in einem Verbrauchermarkt gekauft haben. Der Anblick mancher Geschäfte erfreut mich allerdings auch, zum Beispiel das Hutgeschäft, in dem Schaufensterpuppen Damenhüte mit Federn präsentieren. Dort hatte Mama einen pfirsichfarbenen Hut für die Beerdigung ihres Chefs gekauft, den sie nie wiedersah, weil er ihr vom Kopf wehte und ins Grab fiel. Gegenüber dem Hutgeschäft hat sich ein Tante-Emma-Laden gehalten, dessen Besitzer Pumpernickel, Rhabarbermarmelade, Quark in Plastikbechern und aufgerollte Pfannkuchen verkauft, die seine Frau in ihrer Küche macht; wenn abends ausnahmsweise welche übrig sind, bekommen sie die Obdachlosen.
Die Gäste in Mamas Café haben um diese Zeit bereits gegessen, viele bringen etwas Selbstgebackenes mit oder steuern etwas bei, das sie gekauft haben. In dem Café ist das Essen umsonst. Das Haus gehört einem alten Unternehmer, der gern seine ehemaligen Mitarbeiter um sich hat – all die Leute, die mit ihm
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