Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Verbrechen gibt wie Sand am Meer, Mama. Du spricht mit einer zweiunddreißigjährigen Frau, nicht mit einem fünf Jahre alten Kind.
Die Worte verfehlen ihre Wirkung. Mama strahlt hoffnungsvoll über das ganze Gesicht und fragt, ob ich denn dann nach dem Essen mit auf die Demonstration kommen wolle.
Was für eine Demo?
Sie lässt sich mit der Antwort Zeit. Hält eine Silberkanne über die Möwentasse. Während Kaffee in sie hineinfließt, greift sie mit der Zuckerzange einen Zuckerwürfel, legt ihn auf die Untertasse und sagt bedächtig: Wir protestieren jetzt gegen diese Fliegenschiss-Mehrheit, die uns in Kriege in irgendwelchen fernen Ländern hineinziehen will. Alle aus dem Café werden protestieren. Dann sieht sie Helgi an und bittet ihn sanftmütig lächelnd um Entschuldigung, dass sie sich das Verbrechen später werde ausdenken müssen; nun müsse erst gegen ein verdammt reales Verbrechen protestiert werden.
Er nickt verständnisvoll, steckt die beiden Blätter wieder zu seinen Noten und zuckt zusammen, als ich anzweifele, dass es für ihn gut sei, auf diese Demo zu gehen.
Doch, bitte!, fleht er. Ich will protestieren.
Hm, bist du sicher, dass deine Eltern das so gut finden, wenn du hier auf eine Demo rennst mit deinen zehn Jahren?, stammele ich, während Mama einen Schluck Kaffee nimmt.
Doch er ist sich sicher und sagt: Es gibt da bestimmt einen Jungen wie mich, der in dem Krieg sterben könnte. Und meine Mutter fügt hinzu, dass es dort bestimmt auch eine alte Schachtel wie sie gebe. Ich bin nicht der Typ dafür, ihr zu widersprechen in der Gegenwart von einem Dutzend Senioren, die mich anstarren, hoffnungsvoll und mit portweinfeuchten Lippen. Also beschließe ich, von dem Sonntagsbraten zu essen, um Kräfte für die Demo zu sammeln. Wenig später tänzelt der Koch höchstselbst in den Saal und stellt dampfende Schüsseln auf die Tische, Fleisch, Sauce und karamellisierte Kartoffeln. Die Kristallgläser klingen, als die Senioren auf den Koch anstoßen, der sich vor einer Standuhr verbeugt. Jemand hat vergessen, sie aufzuziehen.
Ich bitte Helgi, ein wenig zu warten, bevor er sich Essen auftut. Er fragt, ob ich denke, dass er ein vollkommener Flegel sei. Seine guten Manieren können nicht verbergen, dass er langsam von mir genervt ist. Mama flüstert, dass diese Aufmüpfigkeit gut sei, ein Zeichen dafür, dass das Kind mir vertraue.
Das muss gerade sie sagen! Ich habe ihr nie richtig vertraut. Nur zu allem Ja und Amen gesagt. Er täte besser daran, von seinen Eltern genervt zu sein als von einer Frau, die er kaum kennt. Die sind schließlich seine Familie. Ich bin etwas anderes. Zum ersten Mal im Leben verspüre ich das Bedürfnis zu protestieren. Gegen alles. Und schlinge den in Sauce ersoffenen Sonntagsbraten hinunter.
Als Fatima mir ihre Geschichte erzählt hatte, wollte ich gegen etwas protestieren, von dem ich nicht wusste, was es war. Daran erinnere ich mich noch.
Damals jedoch hatte ich es bald vergessen, schluckte die Aufsässigkeit mit dem Kuskus herunter, war zu beschäftigt, mit Jordi zu kuscheln, mich in seinen Armen herumzuwälzen, ihn mit Haut und Haar zu fressen, bis ich schwanger wurde. Je mehr ich mich daran erinnere, desto stärker wird mein Drang nach Protest.
*
Im Sonnenschein lungert ein klägliches Häuflein Demonstranten auf dem Platz vor dem Parlament herum, hauptsächlich Rentner und Jugendliche, aber auch Leute mittleren Alters, ich sehe meinen Nachbarn, einen glatzköpfigen Insektenkundler um die dreißig. Manche schwenken Schilder mit schlecht lesbarer Aufschrift, andere versuchen zu vermeiden, diese in dem starken Wind an den Kopf zu bekommen. Bibbernd rücken wir immer enger zusammen. Protestieren, so laut wir können. Warten, dass uns jemand bemerkt, dass jemand die Rufe hört durch den immer stärker werdenden Wind.
Ich stapfe von einem Fuß auf den anderen, um mich warm zu halten, und versuche, Mamas Parolen nachzusprechen. Sie hat sich einen alten Parka über das Seidenkleid gezogen und die feinen Schuhe gegen Schneestiefel getauscht. Den Sinn ihrer Parolen verstehe ich kaum und unterdrücke so gut es geht meine Zweifel daran, dass ein paar skandierende Vogelscheuchen in Island am Lauf der Welt etwas ändern können.
Ein wenig mildert es meine Schwarzseherei, wenn ich Mama und Helgi dabei beobachte, wie sie ihre Parolen in den Wind rufen. Eissplitter wehen ihnen in die geröteten Gesichter, sie halten sich an den Händen, zwei verwandte Seelen, die Wind und Wetter
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