Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Bedürfnis verspürte, wieder einmal etwas für ihre Journalistenkarriere zu tun.
Es war kurz vor Ostern, als sie vorschlug, dass wir nach Marokko fahren. Sie wollte unbedingt dorthin, bevor sie über Ostern nach Island fuhr, um Benni zu sehen.
Damit ich ihm etwas zu erzählen habe, sagte sie halb scherzhaft. Er ist es gewöhnt, dass ich ihn mit etwas überrasche. Wir wollen vielleicht im Sommer nach Marokko, da möchte ich schon mal einen Vorgeschmack haben.
Ich rief Mama an und sagte ihr, dass wir mit der Uni eine Exkursion nach Andalusien machten, das sei Teil des Sprachkurses. Sie würde mich deshalb in den nächsten Tagen telefonisch nicht erreichen können.
Sei schön vorsichtig, ich vertraue dir, sagte sie. In mir brodelte es, ich hätte sie am liebsten angeschrien, nicht so leichtgläubig zu sein. Aller Welt misstraute sie – außer mir, doch ich sagte nur: Danke, Mama. Und nahm das Geld für die Reise an, einen ähnlichen Betrag wie den, den sie im letzten Jahr für meine Reise hierher zusammengespart hatte. Ich sollte es noch brauchen. Einen großen Teil des ersten Betrags hatte ich immer noch, bewahrte dieses sauer ersparte Geld in einem Spanien-Reiseführer auf, der sich als nützlich erwies, als ich mir in einem langen Brief an Mama eine ereignisreiche Andalusienreise zusammenfabulierte. Lügen war inzwischen so selbstverständlich für mich wie Essen oder Atmen, seit ihrem Sturz an Weihnachten war ich so abgebrüht, dass ich vor nichts mehr zurückschreckte. Und wenn sie damals gestorben wäre … Ich traute mich nie, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Mein Gehirn war verdorrt wie Birkenblätter im Herbst, meine Träume fraßen sich wie Larven tiefer und tiefer hinein. Arndís beruhigte mich, wenn ich nachts hochschreckte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Jordi mich in den Schlaf wiegte, doch er wohnte immer noch bei seinen Eltern.
Als er hörte, dass wir ausgerechnet nach Tanger wollten anstatt an einen der vielen interessanteren Orte in Marokko, runzelte er die Stirn. Dazu konnte ich wenig sagen, denn die Reise war ja Arndís’ Idee, und ich fühlte mich verpflichtet, sie zu begleiten. Ich brauchte in diesem Moment wirklich eine Freundin, ich musste im Vertrauen mit ihr reden.
Ist alles okay, Sunna?, fragt die Polizistin. Sie starrt mich an, forschend, während sie versucht zu begreifen, was ich für ein Mensch bin, Vermutungen anstellt und zu den falschen Schlüssen kommt. Oder auch nicht.
Ja, alles bestens. Ich blinzele schnell. Aber wissen Sie, was aus dem zehn Jahre alten Jungen geworden ist, der bei mir war?
*
Er ist so tief in dem Sessel seines Vaters versunken, dass er mit den Beinen zappeln muss, bevor es ihm unter lautem Keuchen und Stöhnen gelingt hinauszuklettern. Er lässt sich auf den Hintern fallen, nörgelt, dass wir jetzt schon ewig Filme kucken, und stößt mich an, die ich mit einem leeren Pizzakarton auf der Brust auf dem Sofa liege.
Ich muss mich erholen, murmele ich. Sein Pony fällt ihm über die Augen, als er mich belehrt, dass die Ereignisse des heutigen Tages mir zeigen sollten, was alles passieren kann, wenn man heimlich raucht. Als seine Worte an mir abperlen wie Wassertropfen an einer Ente, seufzt er, tappt mit hängendem Kopf zum DVD-Spieler und fragt, was wir uns als Nächstes ankucken müssen .
Wir müssen uns überhaupt nichts ankucken, sage ich. Aber du musst deine Mutter anrufen.
Da erwacht er zum Leben: Ja, Sunna, gern. Wo ist das Telefon? Bevor ich antworten kann, hat er es schon unter einem Sofakissen gefunden.
Mutter und Sohn plaudern eine Weile in aufgeregt sehnsüchtigem Ton. Ich höre, wie er sagt, sein Papa sei noch bei der Arbeit, und auch, wie er sich darüber ausschweigt, dass er mich aus den Fängen von drei Gewaltverbrechern gerettet hat, um seiner Mutter die Sorgen und seinem Vater eine Schimpftirade zu ersparen. Dann erahne ich, dass sie ihm einige Lebensregeln vorträgt, die er mir ausrichten soll. Damit ich unser Leben nach ihnen ausrichte: Vollkornspaghetti kaufen, parfümfreies Waschmittel benutzen, ihn von der Schule abholen, keine Gewalt im Fernsehen, kein Naschen und heimlich Rauchen. Nach Möglichkeit vergessen, dass unbekannte Männer mich mit einem Klappmesser bedroht haben, dass ich mit einem Kind einschlafe und aufwache, das ich kaum kenne. Ich gehorche, wie ich es getan hatte, als Vater und Sohn im letzten Jahr für zwei Wochen nach Spanien gefahren sind; was ausgerechnet im Herbst sein musste, in der einzigen
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