Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
gesehen. Ob nur die Gäste des Cafés wissen, dass es sie überhaupt gibt?
Da bist du ja, Bohnenstange! Mama steht plötzlich vor mir, sie trägt ein silbrig glänzendes Seidenkleid, das an ihrem kräftigen Körper spannt und ihre grauen Augen besonders hervorhebt, ihre Lippen leuchten in einem ähnlichen Farbton wie das kirschfarbene Tuch auf ihren Schultern. Offensichtlich hat sie es sogar geschafft, ihre schwieligen Füße in silbrig glänzende Tanzschuhe zu zwängen. Sie hat sich feingemacht! Hinein, hinein, flötet sie mit einer derart hellen Stimme, dass sie zehn Jahre jünger wirkt. Ich glaube, ich habe sie überhaupt noch nie so jung erlebt. Wer ist diese Frau? Meine Gedanken werden pelzig, glitschig und schwer, paddeln durch meinen Kopf wie fette Robbenbabys, während ich einen Flur entlanggehe, auf dem pflaumenblaue Gardinen das Sonnenlicht abhalten, so dass es schummrig ist wie in einem Wald. Der Geruch von Kerzenwachs, Braten, Rotkohl und Rotweinsauce legt sich auf meine Sinne. Stimmengewirr in der Küche, drei Frauen und ein Mann hantieren mit Fleisch, schälen Kartoffeln und rühren in blubbernder Sauce.
Das ist doch kein normales Café, flüstere ich Mama zu, als wir in dem Hauptraum stehen. Aber sie lacht nur mädchenhaft, fast gekünstelt und sagt, ich solle mich entspannen. Helgi bekräftigt ihre Bitte, sieht sich um und sagt schließlich, dass das der fetteste Ort sei, den er je gesehen habe.
Du meinst, der flotteste, sage ich.
Doch er hört mich nicht. Er gafft den glänzend weißen Flügel an, der plötzlich mitten im Raum vor ihm aufgetaucht ist wie eine Eisscholle auf offener See. Im nächsten Moment sitzt er bereits an dem Instrument, hat seine Noten aufgestellt und spielt ziemlich schnell ein Präludium von Bach, unbeholfen, aber leidenschaftlich.
Er muss üben, sage ich entschuldigend.
Er hat einen schönen Anschlag, säuselt Mama, als sie mich an den nächstgelegenen Tisch führt und wir uns setzen. Sieben Tische stehen hier, weiß gehäkelte Tischdecken sind darüber gebreitet, auf denen ein Service mit Möwendekor eingedeckt worden ist. Sie nickt ihren Bekannten am Nachbartisch zu, großspurig und entschuldigend zugleich, weil sie ihre Tochter hier in das Heiligtum eingeladen hat. Ich schaue sie verstohlen an. Die Musik geht mir ins Blut. Ich spüre einen Klumpen im Hals, und meine Augen fangen an zu brennen, während die Finger des Kindes eine ungelenke, schmerzlich schöne Melodie hervorbringen. Auf einmal durchströmt mich Freude darüber, am Leben zu sein und irgendwann zu sterben, die Töne klingen wie der Ursprung aller Harmonie. Weil alles so schön ist, denke ich, die Augen halb geöffnet, einen tränenfeuchten Augenblick.
Dann ist es vorbei.
Helgi sieht uns an, und wir klatschen, während er von dem Klavierhocker rutscht. Er erinnert uns an unsere Hausaufgabe für den Krimi-Workshop und zaubert zwei dichtbeschriebene Seiten aus seinen Noten hervor, die wir uns gerne ansehen dürfen.
Das ist aber lieb, sagt Mama. Da sind wir aber gespannt.
Ich sehe Mama an, dann Helgi, dann wieder Mama und wiederhole, was sie gerade gesagt hat, so dass er sich stolz über seine Blätter beugt. Er sagt, er habe sich einen Schauplatz ausgedacht und Charaktere, die Beziehungen zueinander haben. Nun fehle nur noch das Verbrechen.
Was für ein Verbrechen?, frage ich.
Helgi erinnert mich an einen altväterlichen Lehrer, als er uns erklärt, dass Oddný morgen Plot und Struktur behandeln werde, so dass wir uns langsam einmal ein Verbrechen ausdenken müssten – schließlich müsse man ja für den Matheunterricht auch Aufgaben lösen.
Verwundert über meine eigene Begriffsstutzigkeit frage ich, ob wir das Verbrechen auf jeden Fall bis morgen fertig haben müssen.
Wir müssen zumindest eine erste Idee für ein Verbrechen haben, Sunna, wir wollen doch mitreden können, sagt Mama heiter und lässt eine Perlenkette klackern, die ich hinter dem an den Schultern heruntergerutschten Umhängetuch an ihrem Hals entdecke. Woher um alles in der Welt hat sie die? Die können doch nicht echt sein.
Wir haben gar keine Ahnung von Verbrechen, erwidere ich.
Nun gesteh dir endlich ein, dass Verbrechen zu unserem Leben gehören, meine Kleine, sagt sie und lässt die Perlenkette auf ihre Brust fallen. Hundert hundsföttische Höllenhunde! Das Feuer verbrennt nur den, der es mit geschlossenen Augen umtanzt.
Gegen diese Binsenweisheit kann ich mich nur mit einer anderen wehren: Alle wissen, dass es auf Welt
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