Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Zeit, zu der ich keinen Urlaub bekam. Zufällig die einzige Zeit, die Helgis Mutter in den Kram passte. Meistens war es so, dass ich bis über den Kopf in Arbeit steckte, wenn sie Axel grünes Licht gab, nach Kopenhagen zu fahren und Helgi zu sehen. Manchmal frage ich mich, ob diese Frau überhaupt weiß, dass es mich gibt.
Vor einiger Zeit hatte Mama mich gefragt, ob ich es nicht manchmal leid wäre, immer alles so zu machen, wie es anderen passt.
Das war, als sie bei uns zum Kaffee war und ich währenddessen bei einer Telefonaktion für die Brüder Bücher verkaufte, um die Schuldensuppe auszulöffeln, die überkochte, seit Axel in der Werbeagentur aufgehört hatte.
Und das fragst ausgerechnet du?, entgegnete ich in dem Moment, als ein Elektrotechniker namens Sigurdur Björnsson in Varmahlíd ans Telefon ging und mit allem gerechnet hätte, nur nicht mit einer freundlichen Stimme, die ihm die Essay-Sammlung Die Besten vom Lande in drei Bänden mit 25 Prozent Rabatt anbietet.
Nach dem Telefongespräch sieht Helgi traurig aus, er sagt, er vermisse seinen Vater. Ihm sei langweilig, nur mit mir: … obwohl du echt nett bist!
Ja, ja, sage ich. Mir ist auch langweilig. Aber findet deine Mama es nicht gut, wenn man sich langweilt? Spaß ist doch total überbewertet.
Helgi verdreht so dreist die Augen, dass ich ihn fast anblaffe, er solle doch zu seinen Eltern gehen, wenn ihm so langweilig ist. Wir haben beide keine Lust mehr, höflich zu sein, aber ich halte natürlich den Mund. Weil ich ihn nicht verletzen will.
Ich setze mich über die Regeln seiner Mutter hinweg, mache ihm eine zuckersüße heiße Schokolade und schiebe einen superspannenden Kriegsfilm in den DVD-Spieler, bevor ich Gardar anrufe, um ihm von den ausländischen Männern zu erzählen, die nach Arndís suchen. Während ich es klingeln lasse, kommt mir der Gedanke, er wüsste bereits von ihnen.
Niemand meldet sich, so dass die Frage weiterhin in meinem Kopf herumspukt, als ich mich hinsetze und Helgi in aller Ruhe betrachte. Plötzlich sieht er mich an, macht den Kriegsfilm aus, nimmt sein Malheft und sagt, dass er die unheimlichen Männer in seine Krimigeschichte einfügen will, die er für den Workshop schreibt. Axel hat ein Schweineglück, dass Helgi diese Dinge seinem Malheft anvertraut und nicht dem Ohr seiner Mutter. Kinder verfügen über einen unglaublichen Willen, den Erwachsenen das Leben leichter zu machen.
*
Wir sind bereits unter die Decke gekrochen, als Axel mich daran erinnert, dass ich am besten die Küchenschränke putzen soll, bevor wir Weihnachtseinkäufe machen. Nach der Landdisko-Musik im Hintergrund zu urteilen, ist er in einer Bar, plötzlich möchte ich ihm nicht mehr erzählen, was Helgi und ich heute erlebt haben. Ist alles okay mit dem Kleinen?, fragt er zögerlich.
Das hoffe ich mal, sage ich.
Komisch, bei einem Glas Whiskey an unsere Küchenschränke zu denken. Ich will, dass er nach Hause kommt und mich mit einem Lachen davon überzeugt, dass alles wieder in Ordnung kommen wird, mir zuflüstert, dass ich sein kleines Sorgenpüppchen sei, und er mir in leuchtenden Farben ausmalt, wie wunderbar die Zukunft sein wird, die er gerade für uns aufbaut. Axel muss wieder werden, wie er sein soll.
7. Dezember
ICH STÜRZE EINEN starken Morgenkaffee herunter und beschließe, schnell die Küchenschränke zu putzen. Mit Mehl vermischter Staub tanzt vor meinen Augen, als ich durch das schneidende Licht in die Schränke blinzele, die Sonne scheint so hell wie an den letzten Tagen. Diese penetrante Wintersonne nervt mich, sie leuchtet zu stark; zu viele Reize auf der Haut, auf den Brustwarzen, im Herzen, in der Nase. Empfindlich gegenüber allem niese ich. Vielleicht liegt es daran, dass ich in dem Yogakurs gelernt habe, tief zu atmen, und nun ohne die Anleitung meiner Lehrerin schutzlos weiteratme. Ohne ihre Hilfe ist es ungefähr so angenehm, sich die eigenen Fehler bewusst zu machen, wie sich Steinchen aus einer blutigen Wunde zu kratzen. Ich niese die ganze Zeit, während ich das versiffte Papier herausreiße, mit dem die Küchenschränke ausgelegt sind. Je mehr Lagen ich entferne, desto brauner und feuchter wird es. In einem feuchten Hohlraum im Eckschrank finde ich den Rest eines Insektennests. Mein Magen krampft sich zusammen, als ich sehe, dass die Papierfetzen mit toten Maden verklebt sind.
Es stinkt.
Das hätte ich schon vor langer Zeit tun müssen. Wir wohnen hier seit Jahren!, denke ich, und zusätzlich zu dem Ekel
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