Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
wollte, die nicht wissen durfte, wo ich war, die dachte, ich sei in Barcelona – denn nun war es endgültig zu spät, die Wahrheit zu sagen. Natürlich fiel es mir schwer, in Island zu sein. Seit ich versuchte, mich von ihr zu lösen, litt ich an einem schlechten Gewissen wie ein Heroinabhängiger auf Entzug. Das Letzte, was ich wollte, war, aufs Neue von jemandem abhängig zu sein.
Und erst recht kein Kind, das von mir abhängig war.
Arndís hatte das alles verstanden, sie sprach nur noch an Feiertagen mit ihren Eltern. Irgendwie finde ich enge Beziehungen zwischen Eltern und Kindern immer pervers, hatte sie öfter als einmal behauptet, da sind doch die gegenseitigen Schuldgefühle programmiert. Am besten sollen Eltern es so machen wie Katzen, die sich nicht mehr als unbedingt nötig um ihre Jungen kümmerten. Sie hatte nichts mit ihren Eltern gemeinsam, außer der Blutgruppe und verschiedenen bitteren Erinnerungen, doch wenigstens respektierten sie Arndís’ Einstellung und ließen sie in Ruhe.
Es brachte ihr Spaß, solche krassen Behauptungen in denRaum zu stellen, eine Eigenart, die auch ihren Artikeln einen besonderen Reiz verlieh. Sie machte sich regelrecht einen Sport daraus, große Worte zu machen, je größer, desto besser, und ich nahm fast alles kritiklos hin, besonders wenn diese Worte meiner Mutter etwas von ihrer Heiligkeit nahmen. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte ich ihren Fleiß, ihren Idealismus und ihre Mutterliebe angebetet. Und war der einzige Mensch gewesen, der sie für all diese Opfer belohnen konnte: widerspruchslos gehorchen, um Mitternacht noch Abendessen kochen, die Wohnung putzen, das Geld zusammenhalten, verspannte Schultern massieren, mit guten Noten nach Hause kommen und sie lieben.
Warum hatte mein Vater sie nicht geliebt? Er war verschwunden – wie es Eltern nach Arndís’ Lebensphilosophie tun sollten. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich es immer vermieden, mit ihr über ihn zu sprechen, erzählte ihr nie, dass er aus Katalonien kam, und erst recht nicht von den Überlegungen, die ich über die Familie meines Vaters anstellte, wenn wir durch die Straßen des Strandviertels Barceloneta gingen. Das tat nichts zur Sache, dachte ich, fest entschlossen, meine Mutter wie meinen Vater zu vergessen. Aber Arndís hatte vergessen zu erwähnen, dass auf einen derartigen Befreiungsschlag große Einsamkeit folgt.
Leere.
Auf der Reise nach Marokko betonte sie immer wieder, dass ich ein Recht darauf habe, mich aus allen Zwängen zu befreien. Doch von dieser Leere sprach sie nie. Selig tat ich, was sie mir sagte, reiste sogar nach Island, um da die Abtreibung machen zu lassen, von der weder Mama noch Jordi etwas wussten. Ich wohnte in der Wohnung meiner Freundin Björg, die gerade im Ausland war, und hörte, wie die österlichen Hagelschauer auf das Dach schlugen. Ihre Katze lag auf der Fensterbank, Kondenswasser lief am Fensterrahmen hinab, ich zitterte mit Schmerzen im Unterleib und einer Windel zwischen den Beinen. Gestrandet, für Wochen, bis ich wieder nach Spanien fliegen durfte.
Von morgens bis abends lernte ich Spanisch. Es war schwierig gewesen, so lange von der Uni freizubekommen. Ich lernte und lernte. Log und log. Verdrängte Mama und Jordi. Log, bis mein Mund Tinte spuckte und ich ihnen nicht mehr in die Augen sehen konnte. Seitdem drehte sich alles nur noch um Lügen, die Welt explodierte, und schuld daran war niemand außer mir, die ich mich so leicht beeinflussen ließ.
Ich stolpere die nächstbeste Treppe hinunter. Weine. Mein Magen dreht sich um wie auf dem Seelenverkäufer, der uns im Sturm von Algeciras nach Tanger brachte, während sich der Geruch von Erbrochenem in die salzige Meeresluft mischte. Der Geruch von Desinfektionsmittel durchzieht meine Erinnerung, dann pladdert mein Mageninhalt auf den glatt gebohnerten Boden. In Magensäure und Rotkohl schwimmende Fleischbrocken, blutrot wie die Klumpen in der Aluschale im OP, wenige Sekunden, bevor ich das Bewusstsein verlor. Jemand hatte vergessen, nach dem letzten Eingriff die Schüssel zu entfernen – das war mein letzter Gedanke auf diesem Frauenfließband.
Alles andere: vergessen.
*
Sunna!
Schniefend sehe ich an zwei Beinen hoch. Weiße Hose, weißer Kittel, gebräuntes Gesicht. Gardar beugt sich über mich und sieht kurz auf das Erbrochene. Was machen Sie denn hier? Haben Sie sich übergeben?
Ja, krächze ich. Mir ist dauernd schlecht. Kann das Magenkrebs sein?
Ich würde eher auf einen grippalen Infekt
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