Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
heute so etwas tun würde?
Natürlich, sagte er lachend. In was für einer Welt lebst du? Es wird immer Leute geben, die anderen Leuten das Blut aussaugen. Man muss doch nur die Zeitung aufschlagen und liest etwas über Kinderarbeit, Menschenhandel, Organdiebstahl und atomare Verseuchung. Woher willst du wissen, ob deine Schuhe nicht von einem siebenjährigen Kind genäht wurden?
Wie dumm von mir! Ich legte meinen Kopf unter sein Kinn. Es war zu spät, um etwas zu sagen. Unmöglich, die Worte herauszubringen nach diesem Gespräch. Also schwieg ich.
Dafür, dass du so intelligent bist, bist du manchmal ganz schön arglos, sagte er.
Und Arglosigkeit kann einen teuer zu stehen kommen, sagte ich so oberlehrerhaft, dass er lachte.
Und mich küsste. Ich beschloss, ihm alles zu erzählen, sobald ich wieder hier war. Ich wusste nicht, dass wir uns gerade zum letzten Mal sahen.
Leider, rufe ich in den Wind hinaus. Leider.
Die fremden Männer sind nirgendwo zu sehen. Nichts könnte mir gleichgültiger sein.
*
Auf der Reise machten wir einige Umwege. Wir nahmen den Zug von Barcelona nach Madrid, von dort einen Bus nach Sevilla, dann wieder einen Zug nach Cadiz und einen weiteren Zug nach Algeciras, von wo wir mit einem marokkanischen Schiff über die Meerenge von Gibraltar nach Tanger fuhren.
An all diesen Orten blieben wir ein bisschen, da Arndís meinte, dass wir uns auch gleich Madrid und Andalusien ansehen könnten, wo wir schon einmal unterwegs waren. Ich widersprach nicht, obwohl sich meine Reiselust in Grenzen hielt. Ich war schwanger, ich hatte Angst. Mich schauderte bei dem Gedanken, Mamas Schicksal teilen zu müssen: eine alleinerziehende Mutter im ständigen Kampf ums Überleben, mit einem Kind, das dauernd Mitleid mit ihr hatte. Und schämte mich gleichzeitig für diese Gedanken, schließlich hatte meine Mutter doch alles für mich getan. Was fiel mir eigentlich ein? Und warum hatte ich bloß diese bescheuerte Pille vergessen? Ich brauchte eine Freundin.
Am Strand von Algeciras erzählte ich ihr alles. Die Sonne ging langsam unter, ich grub die Zehen in den heißen, trockenen Sand und hoffte, dass unser Schiff bald ablegen möge.
Für Arndís gab es nur eine Antwort: Lass es heimlich abtreiben.
Das sagst du so einfach, sagte ich in demselben Tonfall, mit dem meine Mutter vor einigen Jahren die Ansichten ihrer pubertierenden Tochter kommentiert hatte.
Nun werd nicht melodramatisch, lachte Arndís, hob die Füße aus dem Sand und streckte die Beine kerzengerade in den Himmel. Dann wandte sie sich mir zu und sagte mit offenkundiger Anteilnahme: Ich kann dir nicht vorschreiben, was du tun sollst. Das ist deine Entscheidung. Aber Jordi oder deiner Mutter davon zu erzählen bringt nichts, außer, dass es die Sache verkompliziert. Hast du nicht gesagt, seine Familie ist streng katholisch?
Als ich nicht antwortete, griff sie lächelnd meine Hand, erwiderte furchtlos meinen zögernden Blick und sah mich an wie eine Mutter ihr Kind. Dann sagte sie: Sunna, du kannst doch dein Konto überziehen, nach Hause fliegen, dort bei irgendeiner Freundin unterkommen, und dann ist bald alles vergessen und vorbei. Hokuspokus: Puff!
Flammen züngelten am Horizont, als ich mich sagen hörte, dass ich vielleicht bei meiner Freundin Björg wohnen könnte. Fledermäuse flatterten über unseren Köpfen in der heißen Luft, das leise Plätschern der Wellen beruhigte mich, und plötzlich war es so wunderbar einfach, eine Entscheidung zu treffen, dort, an diesem Ort, während die Zukunft am Horizont leuchtete, unendlich und verführerisch. Ich starrte in die Ferne wie in Trance, da rief Arndís auf einmal: Hast du den Hund gesehen?
Was für einen Hund?
Die schwarze Töle da am Strand. Der ist ja riesig.
Der spielt mit seinem Herrchen.
Ziemlich unangenehmer Typ. Komm, Sunna!
Aber die sind doch so weit weg.
Lass den Blödsinn. Das ist ein illegaler Einwanderer mit einem Kampfhund. Der ist sicherlich nicht aus Marokko oder Algerien hierhergekommen, um mit seinem Hund zu spielen. Der ist bestimmt gefährlich. Der Hund und der Mann auch. Und was ist das? Ich glaube, der hat ein Messer am Gürtel. Das glänzt da so.
Das ist doch eine ganz normale Gürtelschnalle, sagte ich, spürte aber, wie mein Herz schneller schlug.
Du denkst wohl immer noch, dass alle Ausländer in diesen Hafenstädten harmlose Backpacker sind, sagte Arndís, sprang auf und befahl mir mit zusammengekniffenen Augen, ich solle ihr endlich folgen.
Sand wirbelte
Weitere Kostenlose Bücher