Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
die ›Vampirfrau‹ nannten, sagte er in der ihm eigenen schauspielerhaften Manier, die er immer annahm, wenn er Geschichten erzählte: Im Jahr 1912 ging das Gerücht um, dass jemand reihenweise kleine Kinder entführte. Die Polizei tat das als Geschwätz ab, schließlich verschwanden Kinder zu dieser Zeit aus allen möglichen Gründen. Aber eines Tages stand eine junge Frau auf der Straße und hielt einen Plausch mit ihrer Nachbarin, da war ihre Tochter plötzlich weg. Die Frau dachte, das Mädchen wäre schon mal nach Hause gelaufen, doch als sie selbst daheim eintraf, fragte ihr Mann sie, wo denn die kleine Teresita sei. Da hatte die Vampirfrau in der Carrer Ponent das Kind bereits mit ihren betörenden Worten zu sich gelockt: Komm, meine Kleine, komm, ich habe was Süßes für dich, säuselte Jordi.
Pfui, du klingst wie ein Dealer.
Pst, die Geschichte ist noch nicht vorbei, Sunna! Das kleine Mädchen ist ihr also mit großen Augen gefolgt, so weit, bis es zu spät war. Als sie bei Enriqueta zu Hause angekommen waren, rasierte sie dem kleinen Mädchen die Haare ab, gab ihr den Namen Glück und wollte, dass sie Mama zu ihr sagte.
Ist das ein Märchen, Jordi?
Nein, das ist die reine Wahrheit, das Leben ist nun mal, wie es ist. Und du darfst mich nicht mehr unterbrechen.
Eines Tages bemerkte eine Frau aus der Nachbarschaft ein kahl rasiertes Kind, das betrübt durch eine schmutzige Fensterscheibe schaute. Das Gesicht des Kindes kam ihr irgendwie bekannt vor, so dass sie einem Handwerker in der Straße davon erzählte. Der wiederum ging zu einem Polizisten, der wiederum mit seinem Vorgesetzten sprach, der der Sache auf den Grund ging. In der Wohnung fanden sich zwei kahl rasierte kleine Mädchen, und als der Polizist eine von ihnen fragte, ob sie Teresita heiße, zögerte sie und sagte dann, dass sie an diesem Ort hier Glück heiße.
Enriqueta wurde sofort verhaftet. Kurz darauf tauchte ein ausgemergelter Kunstmaler auf, der sich von Vogelfutter ernährte. Er war der Ex-Mann von Enriqueta und sagte, dass sie eine kinderlose Hure sei, die sechs Mal verheiratet gewesen war. Dann kam ans Licht, dass Enriqueta schon einmal verhaftet worden war, weil sie Kinder zur Prostitution gezwungen hatte – doch die Angelegenheit war damals von ganz oben vertuscht worden. Die beiden kleinen Mädchen erzählten der Polizei nun, wie sie sich einmal heimlich in ein Zimmer geschlichen hatten, das Mama ihnen verboten hatte zu betreten, und dort einen Sack mit blutiger Kleidung und einem Messer fanden. Das andere Mädchen, Angelita, hatte mit ansehen müssen, wie Mama ihren Spielkameraden, einen blonden Jungen, am Küchentisch mit einem Messer ermordet hatte. Die Polizei fand nicht nur das Messer und die Kleidungsstücke, sondern auch Kinderknochen und mit Blut, Menschenfett und Knochenmark gefüllte Töpfchen – sogar eine alte katalanische Handschrift über Giftmischerei entdeckten sie. Alles wies darauf hin, dass Enriqueta aus den Kindern Salben und Elixiere hergestellt hatte. Zu jener Zeit forderte die Tuberkulose in Barcelona viele Opfer, und manche glaubten daran, dass man sie heilen könnte, indem man Kinderblut trank und sich ihr Fett auf die Brust schmierte. Als Enriqueta merkte, dass sie ausgespielt hatte, nannte sie der Polizei eine Reihe angesehener Bürger von Barcelona, die sie ›Wohltäter der Firma‹ nannte und mit denen sie sich nachmittags und abends mit Seidenkleidern, Hüten und Perücken herausgeputzt traf, nachdem sie den Vormittag über in Lumpen gebettelt hatte. In einer ihrer alten Wohnungen brach die Polizei eine Wand auf und fand die Überreste von Dutzenden von Kindern zusammen mit einem luxuriös eingerichteten Zimmer für die Orgien von Kinderschändern. Es wurde vermutet, dass bei einer dieser Orgien ein Kind zu Tode gekommen war und so die Idee entstand, aus ihnen Elixiere herzustellen. Diese sogenannten ›Wohltäter‹ wurden nie verhaftet, doch die Vampirfrau war fortan in aller Munde. Vor Gericht kam die Sache trotzdem nie, weil sie vorher von ihren Mithäftlingen gehängt wurde. Wahrscheinlich haben einflussreiche Leute sie ermorden lassen.
So etwas Schreckliches sollte man am besten vergessen, sagte ich.
Es gibt Verbrechen, die man nie vergessen darf, widersprach er. Für die Opfer spielt es keine Rolle, ob sie vor einer Sekunde oder vor einhundert Jahren ermordet wurden. Das Verbrechen ist das, was bleibt. Daran müssen wir uns erinnern, um unser aller Willen.
Denkst du, dass jemand
Weitere Kostenlose Bücher