Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
meinen Unterleib und versuche mich damit zu trösten, dass ich die Zeit im Bauch trage. Im Fernsehen kommt ein Politiker, der in seinem Wahlkreis so viele Stimmen bekommen hat, dass er nun zu wissen glaubt, in welchem Land es am besten sei, Kinder zu bombardieren. Ich schalte wieder aus. Dann fällt mir Helgis Geschichte in der Tasche des Fleece-Overalls an.
Ich streiche die Papierblätter glatt, sie sind mit Äpfeln und Himmelskörpern geschmückt, die er sorgfältig mit Buntstiften angemalt hat. Ich lese.
Der Krimi von Herrn Anders Ax
Herr Anders Ax war der klügste Detektiv von ganz Kopenhagen. Er hatte eine Detektei über einem Obstladen, so dass er sich immer einen Apfel zum Mittagessen kaufen konnte. Dann kam eine schwarzhaarige Frau zu ihm, die Tinna hieß. Sie wollte bei ihm arbeiten, weil sie seinen Vater kannte. Sie hatte ziemlich hässliche Anziehsachen, war aber nett. Außerdem hatte sie eine alte, liebe Mutter. Die beiden konnten Anders Ax helfen, ein lebensgefährliches Verbrechen aufzuklären, weil sie ganz anders waren als der Rest der Menschen. Aber das größte Verbrechen konnte Anders Ax nicht aufklären. Sowohl seine Mama als auch sein Papa wurden nämlich entführt. Eines Nachts haben drei fremde Männer seinen Papa entführt und eine Woche später seine Mama. Um sie zu finden, musste er nach Spuren suchen. Das war schwieriger, als gegen Kindsmörder mit Messern und Pistolen zu kämpfen. Obwohl die drei Männer ihn manchmal verfolgten, hatte Herr Anders Ax keine Angst, er war eher traurig. Eines Tages kam die alte Mutter auf die Idee, dass die drei Männer ihn vielleicht zu seinen Eltern führen könnten; er musste ihnen nur nachgehen, wenn er sie das nächste Mal sah. Also wartete er viele Tage auf sie hinter einem Müllcontainer und hatte nichts zu essen, außer den komischen Dingen, die Tinna ihm brachte, zum Beispiel Blutwurst mit Zucker. Und seine Anziehsachen wurden immer dreckiger und gingen kaputt und rochen wie Müll. Als die Männer auftauchten, bemerkten sie Herrn Anders Ax nicht, so dass er sie in einen Gorillawald verfolgen konnte, wo viele Gefangene waren, denen sie mit Tabakblättern die Augen verbunden hatten. Herr Anders Ax war selig, in den Wald gekommen zu sein, weil er dort seine Mama und seinen Papa traf. Das war eine große Wiedersehensfreude. Sie konnten im Gorillawald so viele Äpfel essen, wie sie wollten, und machten sich Anziehsachen aus duftenden Blättern und lebten als Partisanen bis an ihr Lebensende. Und Tinna und ihre alte Mutter kümmerten sich um die Detektei. Und alle waren glücklich.
Nach dem Lesen bin ich etwas weniger unruhig. Damit hat er sich also die ganze Zeit abgemüht, der kleine Goldschatz. Er, der sich so gut mit sich allein beschäftigen konnte, während er darauf wartete, dass jemand Zeit für ihn hatte. Immer bereit, auf andere Rücksicht zu nehmen.
Ob ich mit seiner Mutter sprechen soll? Auf jeden Fall muss ich Axel das vorschlagen. Der Schwangerschaftstest beflügelt mich – zum ersten Mal habe ich das Gefühl, zu Axels Familie zu gehören. Ein vollwertiges Mitglied zu sein. Die zweite Frau, die er geschwängert hat – auf die die alte nun gefälligst Rücksicht nimmt. Die sind keine Familie mehr. Das sind nun wir. Deswegen will ich mich für Helgi einsetzen, ich will nicht, dass sie in den Partisanenwald gehen und ohne mich Äpfel essen.
Ich will mit.
Als Hauptfrau.
Ich will, dass Helgi will, dass ich mitkomme. Wir haben diese Tage zusammen verbracht, das bedeutet ihm etwas. Hoffe ich. Aber vielleicht bedeuten wir einander auch nichts, er wird das besser wissen als ich, ein mit Hormonen aufgeblasener Gebärballon. Wie kann ich nur so denken! Ich, die ich zweiunddreißig Jahre alt bin und im dritten Jahrtausend lebe, das sagt zumindest mein Kalender. Ich, die ich nur für den Moment lebe, die Tochter meiner Mutter. Doch trotzdem bin ich im Begriff, mein Herz zu verlieren. Ich kann nichts dagegen tun. Denn ich habe bereits angefangen, Helgi zu vermissen.
Ich darf es nicht länger hinauszögern, mit seinen Eltern zu sprechen. Mir zuliebe. Ich bewege mich sehr langsam auf das Telefon zu und überlege jedes Mal, wenn ich stehen bleibe, was ich sagen soll, voller Scham darüber, dass mir ein fremdes Kind plötzlich so am Herzen liegt. Ich lasse die Augen durch die Wohnung streifen, sie bleiben am Computer hängen. Einmal kurz auf die Homepage von Mr. Hansen zu kucken kann wohl kaum schaden.
Ich klicke auf die Rubrik Texte und
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