Jenseits des Mondes
schleppte ich mich durch den Tag. Ich pfiff buchstäblich aus dem letzten Loch. Normalität zu heucheln kam mir angesichts der bevorstehenden Apokalypse so sinnlos vor. Einzig Rafes Ermahnung, wie wichtig es für unsere Eltern sei, dass wir uns nichts anmerken ließen, hinderte mich daran, während Miss Tauntons endlosem Monolog über Edith Wharton einfach die Augen zuzumachen und wegzudämmern. Allein seine Warnung, dass wir Ruth zu ihrer eigenen Sicherheit nichts verraten dürften, hielt mich davon ab, ihr beim Mittagessen mein Herz auszuschütten. Stattdessen hörte ich mir geschlagene vierzig Minuten lang irgendwelche sterbenslangweiligen Jamie-Anekdoten an, während ich krampfhaft versuchte, die Augen offen zu halten.
Michael sah ich den ganzen Vormittag über so gut wie gar nicht. Das war ungewöhnlich. Bis auf ein kurzes Treffen an meinem Schließfach, bevor er zum Football ging – der liebe Herrgott wusste, wie er das Training durchzustehen gedachte –, sah ich ihn kaum. Ich konnte an nichts anderes denken als an ein Nickerchen nach der Schule, und höchstwahrscheinlich ging es ihm ähnlich.
Als ich aufwachte, fühlte ich mich frisch und ausgeruht. Es war fast wie Zauberei. Ich verbrachte ein angenehmes Abendessen mit meinen Eltern, bei dem wir uns über die E-Mails eines kenianischen Kollegen vom letzten Sommer amüsierten. Während wir danach zusammen das Geschirr abräumten, ging mir die ganze Zeit die Geschichte der Zweihundert im Kopf herum, die Rafe mir erzählt hatte. Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, was meine Eltern alles aufgegeben hatten, um vor Gott Wiedergutmachung zu leisten, und an die Liebe und die Fürsorge, die sie mir gaben. Nachdem die Arbeit erledigt war, drückte ich sie fest und sagte, ich müsse nach oben, um vor dem Zubettgehen noch Hausaufgaben zu machen. Der ganze Abend kam mir vor wie der Beginn eines Abschieds, und ich hatte Mühe, meine Gefühle in Schach zu halten. Aber ich musste es tun. Zu ihrer eigenen Sicherheit.
Ich ging in mein Zimmer, setzte mich hin und wartete auf Rafe.
Am Wochenende hatte er uns gesagt, dass er nicht wolle, dass Michael und ich allein zur Wiese flogen. Tagsüber würde er ein Auge auf uns haben, um sicherzugehen, dass unsere Kräfte nicht weitere Gefallene herbeigelockt hätten. Nachts jedoch sei es schwieriger, sie – und uns – zu überwachen. Daher der Geleitschutz.
Obwohl ich Rafe erwartete und ihn ja bereits Samstag- und Sonntagnacht hatte kommen sehen, bekam ich einen Schreck, als plötzlich sein kastanienbrauner Haarschopf und seine dunklen Augen draußen vor meinem Fenster auftauchten. Ich war es gewohnt, Michaels blonde Haare und grüne Augen dort zu sehen. Wie in alten Zeiten schob ich ganz vorsichtig das knarrende Fenster hoch und schlüpfte in die Nacht hinaus. Ich hoffte inständig, dass meine Eltern nichts gehört hatten, wenngleich aus ganz anderen Gründen als früher.
Rafe teilte mir mit, dass Michael bereits auf der Wiese auf uns warte. Ich nahm seine Hand, und gemeinsam flogen wir in den pechschwarzen Himmel. Obwohl wir nichts Verbotenes taten, kam mir die Situation sehr intim vor. Während wir über die kleine Innenstadt von Tillinghast und den Campus der Universität flogen, versuchte ich, mich ganz auf die vertrauten Orientierungspunkte zu konzentrieren und auf das, was Rafe uns über die verschiedenen Winde erzählt hatte. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass einige der Empfindungen, die ich ganz zu Anfang in Rafes Gegenwart gespürt hatte, wieder in mir hochkamen. Obwohl er jetzt kein Mensch mehr war, sondern ein Engel und noch dazu gewissermaßen mein Lehrer, waren sich die zwei Rafes sehr ähnlich. Beide verfügten über eine ganz eigene Mischung aus Stärke und Empfindsamkeit, hatten einen wunderbaren Sinn für Humor und gleichzeitig einen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Eine Kombination, die überaus anziehend war.
Immer noch Hand in Hand, setzten wir zum Anflug auf die Wiese an. Als wir landeten, sah ich, wie Michael mich und Rafe beobachtete, vor allem unsere ineinander verschränkten Finger. Sein Blick löste ein ungemütliches Gefühl in mir aus, und ich rannte sofort zu ihm hin. Demonstrativ packte er mich, zog mich an sich und gab mir einen verschlingenden Kuss. Diese Zurschaustellung von Zuneigung schien weniger mit mir zu tun zu haben als mit seinem Wunsch, vor Rafe sein Revier zu markieren. Sobald dieser nämlich den Blick von uns abgewandt hatte, ließ Michael mich
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