Jenseits des Mondes
flog ihm nach.
»Was soll das, Michael? Warum bist du so?«, schrie ich und hoffte, dass er mich über das Heulen des Windes hinweg verstehen konnte.
Er wurde nicht langsamer. Ich dachte schon, dass er mich vielleicht nicht gehört hatte, aber dann machte er ohne Vorwarnung eine Kehrtwendung und bremste direkt vor mir ab. Sein Gesicht war wutverzerrt.
»Immer musst du die Auserwählte raushängen lassen!«, brüllte er mich an.
»Was soll das denn heißen?« Ehrlich gesagt hatte ich bereits geahnt, dass Michael so dachte. Nichtsdestotrotz tat es weh, die Worte aus seinem Mund zu hören. Außerdem war der Vorwurf völlig absurd. Ich hatte ihm gegenüber nie mit meiner Rolle als Auserwählte angegeben. Wie auch, wenn ich es doch selbst kaum glauben konnte? Ich war doch in allem auf Michael angewiesen. Er war doch die Liebe meines Lebens, der Einzige, der mich ganz und gar verstand. Verdammt, ich wollte doch nicht mal die Auserwählte sein!
»Das Schwert aus Feuer, Ellie. Die ›reinste aller Waffen‹, und du rufst sie eben mal so herbei, ohne mit der Wimper zu zucken.« Das war es, was Michael als Antwort auf meine Frage vorschob. Wir beide wussten, dass noch viel, viel mehr hinter seiner Bemerkung steckte.
»Das ist total unfair, Michael! Ich habe mich nie darum gerissen, die Auserwählte zu sein. Du wärst für den Job viel besser geeignet. Du kämpfst besser, du bist schneller und viel stärker als ich. Und du bist tausendmal mutiger. Ich würde die Rolle liebend gern an dich abgeben, aber das geht nun mal nicht. Und was das Schwert aus Feuer betrifft, über das du dich so aufregst – in hundert anderen Sachen bist du besser als ich, Michael. Es gibt eine Sache, die ich gut kann, na und? Eine einzige Sache. Ich dachte, du freust dich, weil ich dir so ausnahmsweise mal helfen kann, statt immer nur dumm im Weg rumzustehen!«
»Wie könnte die Auserwählte jemals dumm im Weg rumstehen?« Er sagte »Auserwählte«, als wäre es ein Schimpfwort.
»Pass auf, Michael, mag sein, dass alle ein riesiges Trara um mich machen, aber du weißt genauso gut wie ich, dass ich bloß ein stinknormales Mädchen bin, das versucht, das Richtige zu tun. Und ich dachte, wir versuchen es gemeinsam.«
Seine Miene wurde weicher, und er streckte die Arme nach mir aus. »Ich weiß, Ellie. Tut mir leid. Manchmal fällt es mir einfach schwer, der Ritter der Auserwählten zu sein.«
Fünfundzwanzig
A m nächsten Morgen hatte ich das Gefühl, als könnte ich die Endzeit-Uhr in mir ticken hören. Ich hatte keine Ahnung, was diese Veränderung bewirkt hatte, aber mit jeder Minute, die verging, spürte ich, dass die Stunde der Entscheidung näher rückte. Mir wurde klar, dass ich keine einzige Sekunde der noch verbleibenden Zeit vergeuden durfte.
Ich wusste nicht, wann die Gefallenen uns erneut angreifen würden, also mussten wir jede freie Minute in die Vorbereitungen stecken. Wir mussten bereit sein – körperlich und geistig –, damit wir sie vernichten konnten, bevor sie die verbliebenen Siegel öffneten. Sonst würde es zur Katastrophe kommen – wie auch immer die aussehen würde. Rafe hatte uns noch nicht verraten, was genau passieren würde, wenn wir scheiterten.
Natürlich konnten wir nicht jede Sekunde mit Rafe trainieren. Er hatte darauf bestanden, dass wir unsere Scharade aufrechterhielten, um mehr Zeit für unsere Vorbereitungen herauszuschlagen und unsere Eltern so gut es ging zu schützen. An diesem Tag ließ ich Schulstunden und Hausaufgaben einfach an mir vorbeirauschen, weil ich wusste, dass all das keine Rolle mehr spielen würde, falls Michael und ich versagten. Den nachmittäglichen Kaffeeklatsch mit Ruth brachte ich so rasch wie möglich hinter mich. Selbst die begrenzte Zeit allein mit Michael konnte mir gar nicht schnell genug vergehen – was bei seiner Selbstzentriertheit und unvermindert andauernden Footballmanie vielleicht auch nicht weiter verwunderlich war.
Ich sagte mir, dass ich später noch genug Zeit für Michael haben würde – jetzt musste ich erst mal dafür sorgen, dass es überhaupt ein Später geben würde. Als ich von meinem Nachmittagsschlaf erwachte, war ich zum ersten Mal zuversichtlich, dass ich meine Rolle als Auserwählte wenigstens ansatzweise würde ausfüllen können. Auch das emotionale Auf und Ab auszublenden, in das Michaels unberechenbares Verhalten mich gestürzt hatte, fiel mir mit einem Mal leichter. Ich wollte mich ganz auf die bevorstehende Schlacht konzentrieren.
Die
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