Jenseits des Mondes
einzigen Augenblicke, die ich wirklich auszukosten versuchte, waren die mit meinen Eltern. Zum ersten Mal genoss ich das endlose Geplapper meiner Mutter am Frühstückstisch. Zum ersten Mal lachte ich über Dads lahme Witze beim Abendessen, zu seiner großen Überraschung und Freude. Wer wusste, wann – und ob – solche Momente wiederkommen würden?
Richtig lebendig wurde ich erst, als ich in der Nacht unsere geschützte Wiese erreichte. Rafe begann mit einer Unterrichtseinheit im Sternenlesen, damit wir, wenn wir hoch oben in der Luft kämpften, immer die Orientierung behielten. Er muss den unausgesprochenen Konflikt zwischen Michael und mir gespürt haben. Er sprach uns nicht direkt darauf an, trainierte uns aber getrennt voneinander. Vielleicht dachte er, dass wir schneller lernen und besser miteinander auskommen würden, wenn wir etwas Abstand zueinander hätten.
Zuerst zeigte Rafe Michael einige fortgeschrittene Flugmanöver und Schwertkampftechniken, die völlig jenseits meiner Fähigkeiten lagen. Ich sah geduldig zu. Michaels Darbietung haute mich um. Obwohl wir erst seit knapp vier Tagen trainierten, hatte sich Michael unter Rafes Anleitung unglaublich gesteigert. So sehr, dass er Rafe schon fast ein ebenbürtiger Gegner war. Er schien nur darauf gewartet zu haben, dass jemand kam und ihm zeigte, wozu sein Körper alles in der Lage war.
Nachdem Rafe ihm noch ein paar Schrittfolgen zum Üben aufgegeben hatte, kam er zu mir geflogen. »Bist du so weit?«
»Was für Tricks willst du mir denn heute zeigen?« Ich war bereit, jede Marter über mich ergehen zu lassen, die Rafe sich für mich ausgedacht hatte, hegte aber insgeheim die Hoffnung, dass wir eher am Mentalen als am Körperlichen arbeiten würden. Mit einem eingebildeten Schwert konnte ich tausendmal besser umgehen als mit einem realen.
Rafe schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, dann wurde er sofort wieder ernst. Offenbar war inzwischen selbst für scherzhaftes Geplänkel die Zeit zu knapp. »Ellspeth, ich habe dir ja bereits gesagt, dass die Gefallenen versuchen werden, ihre Geisteskräfte auf dich anzuwenden.«
»Schon klar. Sie wollen, dass ich ihre kranke Weltsicht teile. Dass ich sie nicht dafür verurteile, weil sie gegen Gottes Willen ihre eigenen Wesen erschaffen haben, und so weiter. Ich weiß Bescheid.«
»Eben das müssen wir verhindern. Denn wenn sie damit Erfolg haben, sind wir verloren, ganz egal, wie schnell Michael fliegen oder wie gut er kämpfen kann.«
»Ich soll lernen, wie ich die Gefallenen daran hindern kann, in meinen Kopf einzudringen.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »So was wie bei Kael darf mir nicht noch mal passieren.«
»Genau.« Rafe hielt einen Augenblick lang inne, dann sagte er: »Ich glaube, dass du intuitiv bereits weißt, was du tun musst. Wir müssen diese Fähigkeit nur noch ein wenig verfeinern.«
»Ich weiß nicht genau, von welcher ›Fähigkeit‹ du sprichst.«
»Ist dir nicht aufgefallen, dass du gegenüber Ezekiel deinen eigenen Willen behaupten konntest, während andere seinem Ruf erlegen sind?«
Rafe musste es nicht aussprechen. Mit »andere« meinte er Michael. »Doch, schon …«
»Erinnerst du dich noch daran, wie du es gemacht hast?«
Ich schloss die Augen und rief mir ins Gedächtnis, wie Ezekiel an jenem Abend am Ransom Beach versucht hatte, meinen Willen zu brechen. Ich erinnerte mich daran, dass ich – völlig instinktiv und ohne nachzudenken – eine Art geistigen Schutzschild gegen ihn errichtet hatte. Das hatte ihn abgehalten.
»Ich glaube schon«, antwortete ich zögerlich.
»Dann lass es uns noch einmal versuchen. Konzentrier all deine geistige und körperliche Kraft darauf, zu Michael zu fliegen. Ich werde versuchen, dich aufzuhalten, allein durch die Macht meiner Gedanken.«
Ich nickte und suchte den nächtlichen Himmel ab. Als ich Michael entdeckt hatte, streckte ich mich und machte die Schultern weit, so, wie Rafe es mir beigebracht hatte. Dann flog ich los. Durch die Wolkenschleier konnte ich Michaels Gestalt zunächst nur mit Mühe ausmachen, aber je näher ich ihm kam, desto deutlicher wurde er. Als ich ihn fast erreicht hatte, spürte ich plötzlich einen Ruck, als hätte mich jemand bei den Schultern gepackt und zurückgerissen.
Ich tat so, als würde ich mich ergeben, genau, wie ich es bei Ezekiel getan hatte, und leistete keinen Widerstand. In diesem Moment spürte ich, wie Rafe für den Bruchteil einer Sekunde ganz leicht in seiner Anstrengung
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