Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
dunklen Wimpernkranz halb sittsam war und halb auffordernd. Ohne Weiteres ließ er sich von ihr bei der Hand nehmen und in eines der Zimmer im oberen Stockwerk entführen.
Buntglasige Laternen warfen farbiges Licht auf das Bett und malten Schattengeister auf die spinnwebzarten Stoffe des Baldachins, auf die Kissen, die überkrustet waren von Posamenten und Perlenstickerei. Leonard setzte sich, und nachdem ihm das Mädchen die Stiefel, das Hemd und die Hosen ausgezogen hatte, half er ihr aus den durchscheinenden Gewändern, die mehr enthüllten denn verbargen. Dann legte er sich zurück und blendete alles jenseits dieses Raumes aus. Für einige köstliche, gedankenleere Augenblicke, die nur seiner wachsenden Erregung gehörten, während die Finger und die Lippen des Mädchens unter dem Geklimper ihrer Ohrgehänge und Armreifen über seinen Körper wanderten, untermalt von zärtlich gurrenden Lauten. Leonard setzte sich auf und zog das Mädchen an sich, zögerte dann einen Augenblick.
Woher weiß ich, dass die Mädchen das freiwillig tun und nicht unter Zwang? , ging ihm Stephens misstrauisch hervorgebrachte Frage durch den Sinn; eine Frage, die er selbst sich nie gestellt hatte und die er auch sogleich beiseitewischte, als das Mädchen sich neben ihm ausstreckte, sich verführerisch rekelte und ihn anlächelte. Es spielte keine Rolle, wie es auch keine Rolle spielte,ob die verzückten Laute, die sie von sich gab unter seinen Berührungen, seinen Küssen, ob die Art, wie sie sich ihm entgegenbog und sich an ihn presste, Ausdruck echter Lust war oder nur vorgegaukelt. Es war eine Illusion, für die er hier bezahlte, eine Illusion für beide.
Denn es war Grace, die er begehrte. Es sollten Grace’ Rundungen unter seinen Händen, seinem Mund sein. Ihr Brüste sollten es sein, wie sie sich unter einer Bluse abzeichneten, vom Ausschnitt einer Abendrobe verführerisch in Szene gesetzt wurden, klein und doch erstaunlich voll für eine Frau wie Grace, die schlank war wie eine Birke. Mit der schmalen Taille, die er wohl schon tausend Mal umfasst hatte, und dem sanften Schwung ihrer Hüften. Grace. Das vergnügte, sonnige kleine Mädchen, ihm die liebste Gefährtin im Spiel, seine Verbündete bei jedem Schabernack, die zur Frau herangereift war. Die Frau, die ihm alles bedeutete auf dieser Welt. Ohne die er nicht sein konnte. Grace. Grace. Grace’ Haut sollte es sein, die er spürte, die er roch; ihre Wärme, ihr Duft nach Wiesen und Frühlingsblumen; ihr Haar, durch das er mit den Fingern strich. Grace’ Gesicht wollte er sehen, wie sie selig die Augen schloss, wenn sie ihn einließ und ihn umfing, wie sich erst Lust, dann Erfüllung auf ihre Züge schrieb. Grace. Grace. Grace.
Kurz, viel zu kurz, war der Funkenschauer, der sich am Ende des körperlichen Rausches entzündete. Dann breitete sich Leere aus in Leonard. Und danach – danach kam der Schmerz, der wie ein Riss durch seine Seele ging.
Bevor er aufstand und sich wieder anzog, bevor er Arm in Arm mit den anderen Offizieren durch die noch immer belebten Straßen der Stadt schlenderte, vorbei an Kaffeehäusern, vor denen Männer saßen, das starke, süße Gebräu des Mokkas schlürften, rauchten, Schach spielten und diskutierten, vorbei an den laternenbeschienenen Auslagen der Läden und an müßig herumlungernden Halbwüchsigen, die darauf warteten, dass ihr Leben irgendwie, irgendwann begann, bevor Leonard Hainsworth wieder das gut gelaunte Grinsen zeigte, das man an ihm kannte, rann ihm eine Träne über das Gesicht und fiel in das glatte, schwere Haar des Mädchens.
23
Givons Grove, den 1. August 1883
Liebster Roy,
ganz kurz ein paar Zeilen von mir, bevor ich wieder losmuss ... Schrecklich ist das, dauernd bin ich unterwegs! Nachher bin ich zum Tee mit Grace verabredet, und heute Abend ist das große Sommerfest bei den Aldersleys, dafür muss ich mich dann auch noch zurechtmachen. Nicht dass es später heißt, Lord Amory habe sich mit einer Vogelscheuche verlobt!
Wie geht’s euch da unten? Habt ihr es arg heiß, jetzt im Sommer?
Schreib mir bald wieder, so ein bisschen vermiss ich Dich ja schon ...
1000 Küsse,
Deine Sis-Puss
Pudrig und dottergelb wie Blütenstaub lag das Sonnenlicht des Sommertages auf Shamley Green und rieb das Laub der Eichen matt. Im Innenhof jedoch lag eine fast dämmrige und greifbar dichte Kühle. Nur an wenigen Stellen, an denen die Sonne über die niedrigen Dächer der Nebengebäude hereinfiel, schnitten Keile aus warmer
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