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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Lichter blendeten Jeremy. Es waren Schwertklingen und Speerspitzen, die vor seinen Augen tanzten, unter dem Gebrüll seiner Bewacher. Sieh nicht hin , befahl er sich selbst, doch als er die Augen schloss, wurde der Schmerz in seinen Händen nur noch stärker. Jeremy glaubte zu spüren, wie seine Finger unter dieser Pein abstarben. Denk an etwas anderes. Denk an etwas Schönes. Denk an Grace. Grace. Grace. Er sah Grace vor sich, mit ihrem hellen Haar, den braunen Augen, die ihn anlächelten, hörte ihre Stimme. Jeremy. Ich bin bei dir, Jeremy. Er roch ihren Duft nach frischem Gras und nach Schlüsselblumen. Es nahm ihm nicht den Schmerz, nicht die Angst, aber es ließ ihn beides besser ertragen.
    Der Zauber zerstob, als man ihn erneut packte und über den Platz schleifte. Unwillkürlich riss er die Augen auf, und sein Blick fiel auf drei übermannshohe Holzgestelle. Jeweils zwei im Boden vergrabene Balken, ein dritter quer darübergelegt, um den ein Strick mit einer Schlaufe am Ende geschlungen war.
    Vielleicht war es Einbildung, vielleicht auch Wirklichkeit, dass sich die unverständlichen Laute der tobenden Menge und der Männer, die ihn zum Galgen führten, nach und nach zu einem englischen Wort formten. Stirb! Stirb! , glaubte er sie skandieren zu hören. Stirb! Stirb!

II
    Eine Handvoll Staub
    Kein’ feige Seel’ ist mein,
keine, die zittert auf dem sturmzerwühlten Erdenkreis:
Ich seh den Schein der Himmelsmacht,
und mein Glaube wappnet mich vor Furcht.
    EMILY BRONTË

32
    Die Soldaten schlugen sich weiter durch, hinunter zum Nil, entrichteten zwischen Abu Kru und Gubat noch einmal einen Blutzoll, in einer Schlacht, die die letzte sein sollte, in der sich Truppen der britischen Armee zu einem Karree formierten. Das Karree, das so viele Siege gebracht und das hier, im Sudan, so viele Leben gekostet hatte. Am Nil trafen sie mit der Kolonne zusammen, die über den Fluss in den Süden vorgestoßen war, und unter heftigem Feuer erreichten sie am 28. Januar Khartoum. Ein Khartoum, das umstellt war von jubelnden Männern des Mahdi, aus dem geschossen wurde und dessen Palast in Trümmern lag. Vor allem ein Khartoum, über dem nicht mehr die ägyptische Flagge wehte wie unter Gordon, sondern ein Khartoum, über dem der süßliche Geruch von Tod und Verwesung lag.
    Sie waren zwei Tage zu spät.
    Zwei Tage zuvor hatte der Mahdi die Stadt stürmen lassen, und seine Männer hatten keine Gnade gekannt. In einem Rausch aus Gewalt und Blut waren sie durch die Stadt getobt, hatten geplündert und vergewaltigt und angezündet, verstümmelt und gemordet, und die Frauen, die Kinder, die sie am Leben gelassen hatten, nahmen sie mit und überbrachten sie dem Mahdi und dessen engsten Getreuen als Geschenk. Nur die Allerkleinsten nicht, die noch der Mutterbrust bedurften; die ließen sie zurück und überantworteten sie dem Tod durch Hunger und Durst und den Aasvögeln.
    Wolseleys Männern blieb nichts, als mit schamgebeugtem Haupt, mit ausgezehrtem Leib und mit wunder Seele den Rückzug anzutreten. Mit aufrichtiger Trauer im Herzen vor allem. All ihre Anstrengungen, all die Kämpfe, die Verwundeten und die Toten des Feldzugs – sie waren umsonst gewesen.
    Einen dicken Packen Zeitungen unter dem Arm, hastete Grace die Baker Street mit ihren geordneten Klinkerfassaden hinter schmiedeeisernen Zäunen entlang. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte an ihr vorbei, gleich dahinter eine stattliche Kutsche, und die Hufe der gestriegelten Rösser klapperten munter über das von grauen Schneeresten bedeckte Pflaster. Gentlemen in strengen Anzügen und Bowlerhüten auf dem Kopf überquerten die Straße, Ladys mit flotten Hüten, in eng anliegenden Jacken oder kurzen Capes, unter deren Rückensaum die Rüschen der modischen Turnüre hervorrieselten, wie sie inzwischen auch Adas und Grace’ Röcke und Kleider zierte. Es war zum Morgenritual der Norbury-Schwestern geworden, eine halbe Stunde früher aufzustehen und noch vor dem Frühstück loszulaufen, um Zeitungen zu besorgen; einen Tag Ada, den anderen Tag Grace, so wie an diesem nebelkalten Februarmorgen.
    Die Nachricht vom Fall Khartoums hatte England bis ins Mark erschüttert, und die Wellen der Trauer, der Wut und der Empörung schlugen hoch, und schon wurden Stimmen laut, die den Rücktritt von Premierminister Gladstone forderten, der mit seinem Zögern den Untergang der Stadt besiegelt hatte. Aus den Zeitungen hatten Ada und Grace von Abu Klea erfahren, von den Scharmützeln danach und vom

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