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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Leonard aufkeuchte und auf die Knie sank und der Revolver ihm aus den kraftlosen Fingern glitt. Wie eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte, fiel er zu Boden.
    Len! Bitte nicht! Len! Erst als Grace auf ihn zustürzte, begriff sie, dass sie es gewesen war, die geschrien hatte, in der Überzeugung, sie würde sterben. Jeremy würde sterben.
    Sie kniete sich hin, bettete Leonards Kopf in ihren Schoß und streichelte seine Wangen, während sich auf dem weißen Hemd in Höhe seines Bauches ein sattes Rot ausbreitete, wie eine grausige Blüte, die sich schnell entfaltete. Fast dasselbe Rot wie das des Uniformrocks, den er einst so stolz getragen hatte. Bitte nicht, Len!
    Jeremy starrte regungslos auf Leonard hinunter. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, das wusste Jeremy; bis sie ihn entweder nach Assuan geschafft oder Hilfe geholt hätten, wäre er bereits verblutet.
    Seine Augen starrten auf die Waffe neben Leonards schlaffer Hand.
    Da ist nur eine Kugel in der Trommel , hallte es in seinem Kopf wider. Nur eine Kugel. Nur eine Kugel.
    Ein breiter Schatten fiel auf Grace, und sie hob den Kopf.
    Abbas stand neben ihr, das qualmende Gewehr noch in der Hand, und sah erst verächtlich auf Leonard hinunter, dann warm und stolz auf Grace. »Niemand richtet ungestraft eine Waffe auf dich, Miss Grace. Niemand.«
    »Grace ...«, hörte sie Leonard flüstern.
    »Ja, Len, ich bin hier.«
    Er versuchte ein Lächeln, doch es geriet flatterig. »Grace. Gracie. Es ... es tut mir leid. Ich hab ... ich hab dich einfach ... so geliebt.«
    »Ich weiß, Len.« Unaufhörlich streichelte sie sein Gesicht.
    »Kannst ... kannst du meine Hand halten?«
    »Natürlich.« Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen, die erschreckend kalt waren.
    »Das ... ist gut.« Seine Augen suchten die ihren, und noch einmal zuckte ein winziges, ein letztes Lächeln in seinem immer so strahlenden, so sonnigen Gesicht auf. »Gra...cie.«
    Unter der gleißenden, in ihrer flammenden Kraft ewig triumphierenden Sonne hielt Grace ihn in den Armen, während er starb, und sie weinte um den Freund, der er trotz allem immer gewesen war, der ihr nahestand wie ein Bruder, wie ein zweites,ein männliches Selbst. Sie weinte um den kleinen Jungen mit dem flachsblonden Lockenkopf, der dem kleinen Mädchen mit der großen Schleife im weizenhellen Haar unter den blühenden Apfelbäumen eine Handvoll Gänseblümchen in die Hand gedrückt und es dann geküsst hatte, mit einem Mund, der nach Äpfeln schmeckte und nach Butterkuchen. Dieser Junge, der zu einem Mann herangewachsen war und der diese erste, so frühe Liebe, mit der ganzen Unschuld eines Kinderherzens, nie vergessen hatte. Diese Liebe, die so viele Jahre später solch giftige Früchte trug. Grace beweinte ihn und Jeremys verlorene, mit Schrecken erfüllte Jahre und all das Unheil, das nicht nur der Krieg heraufbeschworen hatte, sondern auch sie selbst.
    Einfach nur, weil sie Jeremy mehr geliebt hatte.

50
    »Ich kann das immer noch nicht fassen.« Royston rieb sich mit den Handballen über die Augen. Auch mehr als einen Monat nachdem die Nachricht eingetroffen war, Leonard sei nahe Assuan in Ägypten bei einem Überfall ums Leben gekommen, fühlte er sich wie benommen. Ein Schock war es gewesen, nicht nur für die Hainsworths, die ihren ältesten Sohn und Erben verloren hatten, sondern auch für alle, die Leonard Hainsworth Baron Hawthorne gekannt hatten, und besonders für die, die ihm in langjähriger Freundschaft verbunden gewesen waren.
    »Welch eine Ironie«, sagte Stephen neben ihm. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, hielt er mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonne. »Ausgerechnet Len, das sprichwörtliche Glückskind. Der selbst den Krieg nur mit einer Schramme im Gesicht überstanden hat.«
    Royston ließ die Hände sinken und starrte von seinem Platz auf der Bank in den Garten von Shamley Green hinaus. Es war zwar erst Ende März, aber die Natur schien es kaum erwarten zu können, dass es Frühling wurde. Überall brach kraftvolles Grün hervor, das Weiß und das pastellige Rosa und das Gelb der Blütenknospen, und die Vögel bejubelten das Ende der kalten Jahreszeit. Unter fröhlichem Gekläff jagte Henry, unbelastet von der Seelenlast der Menschenwesen, unsichtbare Kaninchen über den saftig aufsprießenden Rasen bis zwischen die Stämme der Eichen. »Habt ihr noch mal etwas von Grace gehört?«
    Stephen schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. »Nichts mehr seit der Postkarte aus

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