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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Knien. An ihren Ohren baumelten zierliche Ohrgehänge, die sie, zusammen mit dem in schlichter Manier hochgesteckten Haar, erwachsener wirken ließen. Roystons Herz machte einen kleinen Satz, als sie aufsah und ihm mit einem Lächeln entgegenblinzelte. »Hallo, Royston.«
    »Hallo, Ads. – Darf ich mich zu dir setzen?«
    »Natürlich.«
    »Wie geht’s dir?«, fragte er, als er sich neben ihr niederließ.
    Ada sah in den Garten hinaus und nickte bedächtig. »Ich denke, ich bin in Ordnung. Endlich. Zumindest«, sie klappte das Buch mit einem Aufseufzen zu und zog ein Bein näher zu sich heran, »zumindest habe ich wieder das, was man gemeinhin unter einem Leben versteht.«
    Er deutete auf das Buch. »Und das Unterrichten macht dir immer noch Freude?«
    Sie nickte. »Oh ja, sehr!« Ihre Gedanken wanderten ans Bedford, das ihr ein zweites Zuhause geworden war, obwohl sie dort die schlimmsten, die schmerzlichsten Stunden ihres gerade einmal dreiundzwanzigjährigen Lebens durchlitten hatte. Hin zu ihrem behaglich eingerichteten Zimmerchen zur Untermiete in Marylebone, von wo aus sie werktags ans Bedford aufbrach, um im Musikzimmer den Mädchen den Zauber Chopins und die kraftvolle Schönheit Beethovens nahezubringen und sie dem Bechstein auf seelenvolle Weise zu entlocken. Im Zeichensaallehrte sie ihre Schülerinnen den Umgang mit Kohle und Aquarellfarben, die Perspektive und das Wechselspiel von Licht und Schatten, hielt Vorträge über die Arbeitsweise der alten Meister oder sammelte ihre Schülerinnen in der Eingangshalle, um mit ihnen in die National Gallery am Trafalgar Square zu gehen und die Kunstwerke vor Ort zu studieren. Sie sah die Gesichter ihrer Schülerinnen vor sich, mal konzentriert und andächtig, mal zweifelnd oder unwillig ihr zugewandt. Hübsche, geradezu schöne und unscheinbare Gesichter, kluge Köpfe oder eher schlichte Gemüter. Mädchen, die glücklich waren, hier zu sein, und solche, die von ihren Familien dazu angehalten worden waren; Mädchen, die sich nur die Zeit zu vertreiben suchten, bis sie einen Mann fanden, oder sich vor der Heirat noch etwas zu bilden gedachten, und solche, die mutig den neuen Weg als berufstätige Frau beschreiten wollten; temperamentvolle, selbstbewusste, geradezu kecke Mädchen und solche, die von Natur aus still waren und kaum je den Mund aufbekamen vor Unsicherheit. Und obwohl Ada, die als besonders geduldige und einfühlsame Lehrerin galt, um Unvoreingenommenheit bemüht war, lagen ihr diese schüchternen Mädchen besonders am Herzen. Mädchen, wie sie einst eines gewesen war, scheinbar vor einer Ewigkeit.
    »Ich liebe es, dort zu sein«, sagte sie schließlich leise. »Es ist wunderbar, mitzuerleben, wie die Mädchen Neues entdecken und sich weiterentwickeln – nicht nur in ihren Fähigkeiten, sondern auch als Mensch. Das ... das gibt meinem Leben einen Sinn.« Sie warf Royston von der Seite her ein verlegenes Lächeln zu und verstummte.
    Nach einer Weile meinte er: »Ich hab mich gefreut, zu sehen, dass es dem Colonel bessergeht.«
    Ada nickte, sodass ihre Ohrgehänge schaukelten. »Ja, es geht aufwärts. Immer nur in winzigen Schrittchen, aber insgesamt hat er sich wirklich gut erholt.« Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Er sagt es nicht, und er zeigt es auch nicht, aber ich glaube, er leidet sehr darunter, dass er deshalb in Pension gehen musste. EinGutes hatte es auf jeden Fall: Durch seinen Schlaganfall haben Mama und er sich wieder einander angenähert, und darüber sind Stevie und ich sehr froh.« Mit einem warmen Gefühl im Bauch dachte sie daran, dass ihre Mutter wieder in das elterliche Schlafzimmer gezogen war, und an all die kleinen Gesten, die sie hatte beobachten können: ein weicher Blick, ein liebevolles Wort, Constances Hand auf der des Colonels oder auf seiner Schulter, und mit ganz ähnlicher Freude nahm Ada die zärtliche Innigkeit zwischen Stephen und Becky wahr. Sie senkte den Blick und rieb mit dem Daumen über den geprägten Ledereinband des Buches. »Jetzt müsste nur noch Grace wieder gesund nach Hause kommen, dann wäre endlich fast alles wieder gut.«
    »Das wird sie«, sagte Royston fest, und voller Bestürzung sah er, wie sich Adas Augen mit Tränen füllten.
    »Ich möcht’s so gerne glauben«, flüsterte sie. »Aber jetzt, da Len ...« Sie holte tief Atem. »Glaubst ... glaubst du, dass man dafür büßen muss, wenn man irgendwann einmal in seinem Leben allzu glücklich ist?« Ihre großen Augen blickten traurig, beinahe schon

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