Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
sogleich mit der Waffe auf ihn.
»Für dich gilt das Gleiche, Jeremy. Bleib einfach stehen und rühr dich nicht.« Leonard ging ein paar Schritte rückwärts, damit er sie beide im Visier hatte. »Ich hatte so gehofft, das würde uns erspart bleiben, Grace.« Im Sonnenlicht schienen seine Augen feucht zu glänzen. »Ich hatte so gehofft, du würdest allein zurückkommen. Zurück zu mir. Hab ich’s dir nicht gesagt, in Cairo? Ich würde auf dich warten, hab ich gesagt. Ich würde einfach nur da sein und warten, bis du zu mir kommst.« Er klang verzweifelt, so verzweifelt, dass es trotz ihrer Angst und ihrem Abscheu an Grace’ Herz rührte.
Hastig sah sie sich nach allen Seiten um, doch die Sträucher entlang des Ufers waren zu dicht und zu hoch gewachsen, als dass man sie vom Fluss aus hätte sehen können, und auf der Landseite war nichts als menschenverlassene Wüste. Abbas. Warum haben wir dich nur gehen lassen?
»Es tut mir leid, Jeremy, dass du in Omdurman gelandet bist«, sagte Leonard. »Aufrichtig leid. Das war nicht meine Absicht damals in Abu Klea, wirklich nicht.«
»Was meinst du damit?«, hauchte Grace tonlos und sah zwischen den beiden hin und her.
Jeremys Finger hoben sich an die Schläfe, und seine dunklen Augen flackerten in den Höhlen, als sähe er Bilder vor sich. Als käme Stück für Stück die Erinnerung zurück, wie die Teile eines Puzzles, die sich von selbst zusammenfügten. Simon. Gebt mir Deckung! Len! Roy! Leonard gleich neben ihm, während sie losrannten, um Simon zu Hilfe zu kommen. Ein Schatten, der auf ihn zuflog, wie die dunkle Schwinge eines Vogels. Ein Funkenregen aus Schmerz in seinem Schädel. Und dann nichts mehr. Finsternis. Bis er aufgewacht war unter dem Leichenberg.
»Len, was hast du getan?« Tränen stürzten aus Grace’ Augen, als eine Ahnung in ihr emporkroch.
» Ich wollte Simon retten, ich allein! Ich wollte als Held zurückkommen, als echter Held. Für dich, Grace.« Er schluckte und sah Jeremy eindringlich an. »Ich wollte dich nur außer Gefecht setzen, nur kurz. Dass du einfach verschwindest oder gar in Omdurman landest, das habe ich nicht gewollt. Das musst du mir glauben! Wir sind doch Freunde!«
Grace zitterte, die Hände auf den Mund gepresst, während Jeremy einfach nur dastand und versuchte, das Unfassliche zu begreifen. Leonard, der ihn in Abu Klea niedergeschlagen hatte, was in der Schlacht sein Todesurteil hätte sein können, nur um doch noch die Frau zu bekommen, die sie beide liebten. Leonard, durch den er in Omdurman gestrandet war, wo er tausend Tode gestorben war.
»Ich hab dich überall gesucht«, flüsterte Leonard mit erstickter Stimme. »Royston und ich haben dich überall gesucht. Aber als wir dich nirgendwo fanden, dachte ich, gut, so will es eben das Schicksal. Eine höhere Macht hat entschieden, dass Grace mir gehört, mir allein.« Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel, glitzerte auf im Sonnenlicht. »Du hättest ihn nicht suchen sollen, Grace. Du hättest dem Schicksal nicht in seinen Lauf hineinpfuschen sollen. Jetzt muss ich es doch noch in Ordnung bringen.«Sein Kinn ruckte auf die Waffe in seiner Hand. »Da ist nur eine Kugel in der Trommel. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder du stirbst«, er nickte zu Jeremy hin, »dann gehört Grace tatsächlich wieder mir. Mir allein. Wie in all den Jahren, bevor du aufgetaucht bist. Oder ...« Er zielte auf Grace, und seine Stimme zitterte. »Es würde mir das Herz brechen, Grace. Aber so könnten Jeremy und ich Freunde bleiben, und die Erinnerung an dich würde uns für immer verbinden.«
Grace löste die Hände von ihrem Mund und streckte sie in einer besänftigenden Geste zu Leonard hin. »Nicht, Len«, flüsterte sie. »Tu es nicht. Lass uns einfach beide gehen. Tu dir selbst einen Gefallen und nimm die Waffe herunter.«
»Ich kann nicht, Grace«, flüsterte Leonard zurück. »Es muss einfach ein Ende haben. Entweder ich bekomme dich oder keiner von uns.«
Nein, Len, bitte nicht.
Die Erde drehte sich langsamer, die Sonne wirkte greller, die Schatten schärfer und dunkler. Das sanfte Rauschen und Glucksen des Nils, das Knattern der Segel und das Schäumen der Wellen am Bug der Boote, das Rascheln der staubig grünen Blätter im Wind, alle Geräusche wurden leiser, verstummten schließlich ganz zu einem bedrückenden, furchterregenden Schweigen.
Ein Schuss zerriss die Stille, dann ein greller Schrei.
Die Welt hielt den Atem an, einen einzigen Herzschlag lang.
Bis
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