Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
zu sehen war. Stramm bergan stapften die Kamele mit Abbas, auf eine weiter entfernte Felswand aus Schichten ockerfarbenen Steins zu, in deren Kerben sich der Sand in pulvrigen Fluten hineinschob.
Jeremy zog Grace in seine Arme, und beide sahen Abbas nach, bis er zwischen den Dünen verschwunden war, ohne sich noch einmal nach ihnen umzudrehen.
»Wir verdanken ihm alles«, wisperte Grace. »Bis hierher. Und was jetzt?« Fragend sah sie ihn von unten herauf an. Bis hierher – was danach kommen würde, darüber hatten sie in den letzten Wochen kein Wort verloren. Heil aus dem Sudan nach Ägypten zu kommen war das Einzige, was ihnen wichtig gewesen war.
Jeremy schwieg. Er sah Grace nur an und berührte dann behutsam mit seinen Lippen die ihren. Der erste Kuss seit jenen Küssen im Garten von Estreham im Gewitter.
Sie fuhren auseinander, als sich Hufschläge näherten, dumpfer, langsamer und unregelmäßiger als die eines Pferdes im Galopp. In einer Staubwolke kam in schnellem Lauf ein Reiter auf einem Kamel dahergeritten und winkte mit hochgerecktem Arm.
»Das ist Len«, entfuhr es Grace.
»Meinst du wirklich?« Zwei feine Kniffe bildeten sich zwischen Jeremys Augenbrauen.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich bin ganz sicher.« Die erste Freude wich einem Gefühl der Beklommenheit. Immer deutlicher konnte sie ihn sehen, sein in der Sonne golden glänzendes, welliges Haar, den hellen Anzug mit dem weißen Hemd darunter, das sonnengebräunte Gesicht mit den blauen Augen und dem Schimmer eines Bartes.
»Whuuuuuu«, rief er ihnen entgegen, während er das Kamel zügelte. »Da seid ihr ja!« Keuchend hieß er das Kamel sich hinzuknien, glitt aus dem Sattel und ging grinsend auf sie zu, zog Grace in seine Arme und drückte sie herzlich an sich. »Gott sei Dank, du bist heil zurück! Lass dich ansehen.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Dir kann selbst der mörderische Sudan nicht viel anhaben.« Als er sie losließ und mit ausgebreiteten Armen auf Jeremy zuging, streckte dieser steif die Rechte aus. »Hallo, Len.«
In Leonards Augen blitzte es kurz auf, und sein Grinsen flackerte. »So förmlich?« Dann lachte er, ein flaches, trockenes Lachen, und nahm Jeremys Hand, schüttelte sie kräftig und legte die Linke darauf. »Tut das gut, dich wiederzusehen! Ich hab schon gar nicht mehr geglaubt, dass ich das noch einmal erleben würde. Aber mit Verlaub: Du siehst reichlich mitgenommen aus.«
Jeremys Miene unter dem dunklen Bart verdüsterte sich. »Omdurman ist nicht gerade ein erholsamer Ort.«
»In Omdurman warst du? Mannmannmann.« Leonard ließ Jeremys Hand los und trat zurück und stemmte eine Hand in die Hüfte, dann sah er sich schnell nach allen Seiten um. »Wo habt ihr Abbas gelassen?«
Etwas stimmte nicht mit Leonard, das war offensichtlich für Grace. Aufgekratzt wirkte er, und sein Erscheinen hatte die Luft mit einem Knistern aufgeladen, das auf Grace bedrohlich wirkte, und aus der Art, wie Jeremy sich spürbar anspannte, schloss sie, dass er es ebenso empfand.
»Was machst du hier, in Assuan? Warum bist du nicht nach Hause gefahren?«, fragte sie ihn statt einer Antwort und machte einen kleinen Schritt rückwärts, auf das Kamel hinter ihr zu.
Leonard legte den Kopf schräg und machte mit einer Hand eine lässige Geste. »Grace, ich bitte dich! Ich werde doch nicht nach Hause fahren, wenn ich dich im wilden Sudan weiß!« Seine Augen blickten eindringlich, als er hinzufügte: »Ich habe hier auf dich gewartet, die ganzen Monate.«
»Hier? Auf diesem Pfad?«, fragte Jeremy, und seine Stimme troff vor Sarkasmus.
»Nein, natürlich nicht«, gab Leonard heiser lachend zurück und deutete hinter sich. »Ich habe mich am Stadtrand eingemietet, mit Blick auf den Nil und auf diesen Pfad hier. Mit genug Geld lässt sich in Cairo leicht in Erfahrung bringen, dass Abbas nach Assuan immer über diesen Weg hier kommt.« Jegliche Heiterkeit war aus seinen Zügen wie weggewischt. »Ich habe jeden einzelnen Tag nach dir Ausschau gehalten, Grace.«
Er ist verrückt , schoss es Grace durch den Kopf. Das ist nicht der Len, der all die Jahre mein Freund war. Dieser Leonard macht mir Angst. Sie tat noch einen Schritt zurück, tastete hinter ihrem Rücken nach ihrer Tasche mit dem Revolver.
»Bleib stehen, Grace«, befahl Leonard gefährlich sanft und zog hinten aus dem Hosenbund selbst einen Revolver, richtete ihn auf Grace und spannte den Hahn. »Bleib einfach nur stehen.«
»Len ...«, setzte Jeremy an, und Leonard zielte
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