Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
und hinter dem sie sich allem Anschein nach zwar nicht wohlfühlte, aber dennoch einigermaßen sicher.
Grace atmete tief durch und machte den letzten Schritt auf sie zu. »Verzeihen Sie – Mrs Danvers?«
Graue Augen richteten sich erschrocken auf sie, verdunkelten sich sogleich in vorsichtiger Zurückhaltung. »Ja bitte?« Weiche Züge, lebhaft trotz des Schleiers aus Müdigkeit, der darüberlag; ein in seiner Milde noch junges Gesicht, obwohl Zeit und Kummer scharfe Linien um Mund und Nase eingegraben hatten.
Grace streckte ihr lächelnd und in einer offenen Geste ihre Rechte hin. »Schön, dass Sie heute hier sind. Ich bin Grace. Grace Norbury.« Ihr Name verklang, ohne dass sich eine Spur des Wiedererkennens in Mrs Danvers’ Gesicht zeigte. »Die Schwester von Stephen?«, erklärte Grace weiter, und unwillkürlich hob sichihre Stimme am Ende, wie bei einer Frage. »Er und Jeremy waren in derselben Kompanie und saßen im Unterricht nebeneinander? Mein Vater war ihr Professor in Gefechtsführung, und Jeremy hat einige Wochenenden bei uns zu Hause verbracht ...« Als sich die Stirn von Jeremys Mutter fragend furchte, begriff Grace, dass er offensichtlich nie von ihr erzählt hatte, und ein scharfer Stich fuhr durch sie hindurch.
»Tatsächlich.« Zögernd ergriff Mrs Danvers Grace’ Hand und musterte sie ebenso neugierig wie verwundert. Die Verlegenheit stand dick zwischen ihnen, bis sich Mrs Danvers’ Miene schließlich aufhellte und sie herzlich zu lachen begann, begleitet von einem festen Händedruck. »Bitte entschuldigen Sie vielmals – mein Sohn war noch nie sonderlich mitteilsam!« Von einem Augenblick zum nächsten war ihre Zurückhaltung aufgebrochen, und eine Wärme ging von ihr aus, die Grace in ein Gefühl der Geborgenheit hüllte und sie sogleich Vertrauen fassen ließ.
Sie stimmte in dieses Lachen ein. »Nein, das ist er wahrhaftig nicht. Ich gratuliere Ihnen auch im Namen meiner Eltern zu Jeremys Abschluss. Sie müssen sehr stolz auf ihn sein!«
»Stolz?« , murmelte Mrs Danvers, als wollte sie die Laute auf der Zunge schmecken, erst darüber nachdenken, was dieses Wort bedeutete. Die Wärme verschwand wieder hinter wohlbedachter Reserviertheit, während Mrs Danvers ihren Sohn mit Blicken suchte, bis sie ihn salutierend inmitten der Formation fand. Das Lächeln auf ihrem Gesicht schrumpfte, bis es nur noch ein halbes war. Dasselbe halbe Lächeln wie bei Jeremy.
»Ich freue mich von Herzen für ihn, dass er das erreicht hat, was er sich immer ersehnte. Und er hat meine ganze Hochachtung dafür, dass er sich davon auch nie hat abbringen lassen«, sagte sie in dem gleichen langsamen, schweren Zungenschlag, den man manchmal auch noch bei Jeremy heraushörte. Grace hatte das Gefühl, dass zwischen Trommelwirbeln, harschen Männerstimmen und den metallischen Klängen der Blaskapelle vieles unausgesprochen in der Sommerluft hängen blieb.
»Darf ich Sie vielleicht meiner Mutter vorstellen?«, schlug Grace spontan vor. »Sie würde sich sehr freuen, Sie kennenzulernen.«
Unentschlossen, beinahe scheu, sah Mrs Danvers in die Richtung, in die Grace gedeutet hatte. Die Menge der Zuschauer gab gerade den Blick auf Constance Norbury frei, die lachend ein kleines Mädchen an den Händen hielt und mit ihr im Takt der Musik ein paar Tanzschritte machte. Grace hoffte inständig, dass die Gabe ihrer Mutter, dass sich in ihrer Gegenwart auch fremde oder eigenbrötlerisch veranlagte Menschen auf der Stelle wohlfühlten, ihre Wirkung auf Jeremys Mutter nicht verfehlen würde. Stattdessen fühlte sie einmal mehr Mrs Danvers’ Blick auf sich ruhen, eindringlich, beinahe forschend, spürte schließlich, wie etwas an ihrem Gegenüber aufweichte, sich nachgerade öffnete. »Natürlich. Sehr gern, Miss Norbury.«
»Hat sie sich das auch gut überlegt mit dir?« Schnipp-schnapp machte der Fächer in den Händen von Lady Evelyn, während sie ihn ungeduldig auf- und zuklappte und dabei unter hochgezogenen Brauen ihre Blicke durch die Turnhalle von Sandhurst schweifen ließ, die heute Abend zum Ballsaal umgestaltet war. »Sie sollte sich nicht von Reichtümern und Titeln blenden lassen – schließlich weiß niemand so gut wie ich, wie sehr einen das später reuen kann.«
Reck, Barren, Bock und Pferd hatte man in einen Lagerraum verbannt, und auch von Matten, Seilen, Lederbällen, den Masken und Floretten des Fechtunterrichts war nichts zu sehen. Nur wenig erinnerte daran, dass hier sonst junge Männer unter
Weitere Kostenlose Bücher