Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Jeremys Adresse im Regiment und klebte eine Marke darauf. Auf dem Weg zum Frühstück würde sie ihn morgen in den Postkasten in der Eingangshalle werfen. Ihr Blick fiel auf den Stein, ein vom Meer glatt polierter Kiesel, den Jeremy ihr aus Malta geschickt hatte und den sie als Briefbeschwerer benutzte, und auf die Ansichtskarte von Cecily darunter: die colorierte Photographie eines klotzigen Hotels an der französischen Riviera mit künstlich wirkenden Palmen und einem viel zu blauen Meer davor, wo Cecily seit Dezember mit ihrer Mutter weilte. Ähnlich wie Grace schien die Freundin durch die Abwesenheit des Liebsten von einer unbezähmbaren Rastlosigkeit befallen, mit der Cecily sich von einer Zerstreuung in die nächste stürzte. Grace verspürte Gewissensbisse, dass Cecily ihr nicht besonders fehlte, Becky dafür umso mehr. Doch noch ehe sie zu einem weiteren Briefbogen greifen konnte, um Becky zu schreiben, hörte sie das gedämpfte Stampfen von Pferdehufen und Räderknirschen, das unmittelbar unter den Fenstern abbrach.
Sie stand auf und spähte hinunter auf die Straße, die bedeckt war von einer dicken Schicht festgetretenen und festgefahrenen Schnees. Vom bläulich finsteren Himmel schwebten neue Flocken herab und glitzerten im Schein der Laternen und der beleuchteten Fenster. Der Kutscher des Wagens sprang vom Bock herunter und öffnete den Schlag, half Ada heraus, die noch ein paar Worte ins Wageninnere hinein sagte und dann lachte, die Hand zum Gruß hob und mit gerafftem Mantel und Rock ins Haus eilte.
Es dauerte nicht lange, dann vernahm Grace vor der Tür Adas leichte, schnelle Schritte, schließlich ihre Stimme. »... oh ja, ein herrlicher Abend ... Mach ich! Nacht, Hetty!«
Die Tür flog auf und schnappte sogleich hinter Ada wieder zu, die auf ihre Schwester zustürmte und ihr um den Hals fiel. »Hallo, Gracie!«
»Uh, Ads, deine Nase ist ein einziger Eiszapfen!«, beschwerte sich Grace lachend.
»Mir ist auch furchtbar kalt«, gab Ada schnatternd zur Antwort und spritzte durch das Zimmer, um sich ihres Mantels, ihrer Handschuhe und des Hutes zu entledigen und die Kleidungsstücke sogleich wegzuräumen.
»Magst du eine Tasse Tee?«
»Schrecklich gern! – Machst du mir noch schnell das Kleid auf? Ich friere mich noch zu Tode in diesem Fähnchen!«
Kaum hatte Grace das letzte Häkchen der zartvioletten Seidenrobe gelöst, war Ada auch schon wieder davon, um ihren Schmuck abzunehmen und auf den Nachttisch zu legen, verschwand schließlich hinter dem Paravent und redete währenddessen in einem fort. »... so eine schöne Aufführung! Der Mezzosopran hatte eine so wunderbare Stimme ... und der Bariton sang nicht nur ausgezeichnet, er war auch ein Bild von einem Mann! ... Szenenbild und Kostüme wie aus einem Guss ... und die Musik erst! Ich muss schauen, ob ich die Noten irgendwo herbekomme ...«
Grace lächelte, während sie ihnen beiden Tee einschenkte. Seit sie beide wieder am Bedford waren und Ada sich mit Feuereifer und verblüffender Unerschrockenheit in den Unterricht gestürzt hatte, schien ihre kleine Schwester wie ausgewechselt, lebhafter, sicherer und reifer. Als ob etwas in ihr, das jahrein, jahraus im Knospenstadium verkapselt gewesen war, innerhalb von wenigen Wochen zu voller Blüte aufgegangen wäre. Eine Entwicklung, die auch ihren Eltern nicht verborgen geblieben war, als ihre beiden Töchter über die Feiertage nach Hause kamen, und Grace’ vielsagend triumphierenden Blick hatte der Colonel sogar mit einem angedeuteten Kuss auf ihre Schläfe quittiert.
»... und ich soll dich ganz lieb von den Digby-Jones grüßen!« Ada kam hinter dem Paravent hervor, von der eleganten jungen Dame zurückverwandelt in ein Mädchen in einem übergroßen langärmligen Nachthemd, mit dicken Wollsocken an den Füßen und das Haar zum Zopf geflochten. Sie schob die Fußbank zum Sekretär hinüber und hockte sich hin, nahm die Tasse, die Graceihr hinhielt. »Danke, du bist ein Schatz. Schade, dass du heute Abend nicht dabei warst!«
»Ja, ich hab’s auch bedauert«, sagte Grace.
»Bist du mit deinem Aufsatz gut vorangekommen?«
Grace zog eine Grimasse und hielt Daumen und Zeigefinger ein Stück auseinander. »Ungefähr so viel. Zum Glück habe ich noch ein paar Tage Zeit.«
Ada nickte verstehend. Ihr überschäumender Redefluss war versiegt, und auch die freudesprühende Aufgeregtheit, die sie mitgebracht hatte, klang ab. In einträchtigem, genießerischem Schweigen tranken die Schwestern
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