Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
presste ihn an ihr Gesicht. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, vielleicht roch Papier einfach ganz ähnlich nach einer solch weiten Reise, aber für Grace duftete es nach Sonne und Sand. Zärtlich strichen ihre Finger über das Kuvert mit der steilen Handschrift darauf, bevor sie in das Fach unter der Tischplatte griff, ihre Schreibmappe hervorholte und sie aufschlug. Zwischen den getrockneten Blüten und Gräsern, die sie ihres Dufts wegen darin aufbewahrte, zog sie einen der pastellfarbenen Bögen heraus und nahm ihren Füllfederhalter zur Hand.
York Place, den 8. Januar 1883
Liebster Jeremy,
ich bin so froh zu lesen, dass es Dir gut geht! Froh auch immer noch, dass Ihr ohne Gefechte nach Cairo gekommen seid und die Lage sich dort beruhigt. Ich muss immer wieder daran denken, dass es bei Dir jetzt warm und sonnig ist, während hier der Schnee so hoch liegt. Und daran, dass Du Dich mit Blick auf den Nil zur Nachtruhe begibst, während ich nur auf die Baker Street hinunterschaue, wenn ich die Vorhänge unseres Zimmers zuziehe. Würdest Du Dich nicht auf einem Feldzug befinden – ich glaube, ich würde auf der Stelle das Nötigste zusammenpacken und den nächsten Dampfer nach Ägypten nehmen. Damit Du mir die Pyramiden zeigen könntest und die Sphinx und die Gassen von Cairo. Und damit ich Dich überhaupt einmal wiedersehe ...
Wie habt Ihr Weihnachten denn gefeiert, in Cairo? Und Silvester?
Für uns auf Shamley Green war es ein trauriger Jahreswechsel. Gladdy war schon lange nicht gut beieinander, wie uns Mama schrieb. Ich glaube, er hat nur darauf gewartet, dass Ads und ich über die Feiertage nach Hause kommen und er uns noch einmal um sich haben konnte. Am Morgen des 2. Januar hat Papa ihn in seinem Korb im Korridor unten gefunden. Er muss sanft eingeschlafen sein und ist dann einfach nicht mehr aufgewacht.
Grace wischte sich eine Träne weg, die ihr über die Wange lief.
Wir hingen alle sehr an ihm, schließlich war er die halbe Kindheit, die gesamte Jugendzeit hindurch unser Gefährte. Besonders Ads hat sehr getrauert, sie war ja erst sechs, als er zu uns kam. Selbst Tabby schleicht seither suchend im Haus umher – dabei hat sie in ihm doch immer einen Rivalen um Leckerbissen gesehen und ihn ein paar Mal böse gekratzt, als er noch ein Welpe war und auf seine tapsige Art mit ihr spielen wollte. Wir haben ihn im Garten unter einer der Eichen begraben. Der Boden war Stein und Bein gefroren, und Ben mit seinem müden Rücken hat sich sehr abgeplagt und Papa mit seiner alten Verwundung ebenso. Helfen lassen wollten sie sich von uns Frauen trotzdem nicht ... Mama wird im Frühjahr dort etwas Hübsches pflanzen, etwas, das uns immer an Gladdy erinnert. Darf ich Dich bitten, Stevie ein bisschen zu trösten, auf Deine Weise?
Ads ist heute Abend in der Oper, mit Lord und Lady Alford, die gerade in London sind und mit denen wir gestern schon zum Tee verabredet waren. Ich musste auf dieses Vergnügen heute leider verzichten und mich stattdessen an meinen Aufsatz für Französisch setzen. Ursprünglich wollte ich über Baudelaire schreiben, aber ...
Sie hob den Kopf, und wie von selbst legten sich ihre Fingerspitzen auf den Rücken des Gedichtbands, der auf dem Sekretär zwischen ihren Lieblingsbüchern einen Ehrenplatz bekommen hatte, und streichelten über das vernarbte Leder. Ein Lächeln malte sich auf ihr Gesicht, halb sehnsüchtig, halb vorwitzig.
... aber Monsieur Esclangon sah aus, als bekäme er gleich einen Herzanfall, als ich ihm dieses Thema vorschlug. (Du siehst: Du übst einen denkbar schlechten Einfluss auf mich aus!) Also blieb es bei Dumas ... Esclangon verlangt viel. Ich glaube, ich habe noch nie so viel gepaukt in meinem Leben wie in den vergangenen Monaten. Und Deutsch – Deutsch ist so entsetzlich schwierig! Ich ringe ganz fürchterlich mit der Grammatik. Ging es Dir in Sandhurst damit genauso? Aber es hält mich wenigstens beschäftigt und lenkt mich ab. Und trotzdem – trotzdem denke ich ständig an Dich, ständig frage ich mich, wie es Dir gerade geht, was Du tust. Mit meinen Gedanken bin ich immerzu bei Dir. Und mit meinem Herzen.
Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute für das neue Jahr, Jeremy. Dass Du gesund nach England zurückkehrst vor allem, und das hoffentlich bald. Schreib mir so schnell wie möglich zurück, denn Deine Briefe – Deine Briefe sind wenigstens etwas von Dir, wenn Du selbst schon so weit fort bist.
Deine Grace
Grace verschloss den Umschlag, versah ihn mit
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