Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
ihren Mund gelegt, und in jener Sekunde, ehe sie den Kopf abwandte, den Jungen auf die Wange küsste und ihn seiner Mutter übergab, war es Jeremy beinahe so gewesen, als hätte er in ihren Augen denselben Wunsch gelesen. Ab diesem Moment hatte es sich angefühlt, als ob eine dauernd entzündete Wunde nun endlich heilen könnte. Und sie hatte zu heilen begonnen, das Frühjahr hindurch und den ganzen Sommer über. Dank Grace.
»Grace«, antwortete Jeremy schließlich rau, »Grace ist der Mensch, mit dem ich mein Leben verbringen möchte.«
Stephen schwieg einen Augenblick. »Ist das wirklich so einfach?« Er klang beinahe argwöhnisch.
Jeremy atmete tief aus und zog ein Bein an. »Für mich schon.«
Stephen dachte lange über Jeremys Worte nach. Zu Anfang hatte er Becky vermisst, doch zunehmend verblasste die Erinnerung an sie, und während sie Briefe schrieb, in denen sie wortreich beteuerte, wie sehr er ihr fehlte, wie oft sie an ihn dächte und von ihm träumte und wie sehr sie sich nach ihm sehnte, ließ er ihre Briefe immer länger liegen, ehe er sich mit wachsendem Unwillen an eine Antwort setzte. Denn dieser Lawine an Gefühl, die mit jedem Brief über ihn hereinbrach, konnte er nichts entgegensetzen. Alles, was er ihr aufrichtigen Herzens zurückschreiben konnte, erschien ihm blass und fad und dürr. Stephen litt zwar an Heimweh, Heimweh nach England und nach Surrey und nach Shamley Green, Heimweh nach all den Menschen, die sein Leben ausmachten, und Becky war ein Teil davon, war es immer gewesen. Aber ihr galt nicht die Sehnsucht seines Herzens, und noch weniger konnte er sich vorstellen, das Leben mit ihr zu teilen, sie jeden Tag um sich zu haben und jede Nacht. Allein der Gedanke daran schnürte ihm die Luft ab.
Er träumte von einer Frau, die nicht nur seinen Leib in Aufruhr versetzte und die Erfüllung seines Begehrens versprach, wie die Araberinnen auf Cairos Straßen, von denen er nur die glutvollen, lang bewimperten Augen über dem Gesichtsschleier zu sehen bekam und deren fließende Gewänder das Schwingen der Hüften beim Gehen erahnen ließen. Oder die atemberaubenden Afrikanerinnen, die stolz und geschmeidig einherschritten wie Raubkatzen und seine Phantasie beflügelten. Sondern von einer Frau, die zudem seine Seele berührte und seinen Geist in ihren Bann zog; eine Frau, die noch nicht Gestalt angenommen hatte vor seinem inneren Auge, die keinen Namen besaß und kein Gesicht.
Vielleicht bliebe eine solche Frau ein Traum, der niemals wahr wurde, genau wie alle anderen Träume, die Stephen in sich trug.Aber vielleicht gab es sie auch wirklich, irgendwo, und sie sehnte sich nach einem jungen Mann wie Stephen.
Der Gedanke daran, Becky beizubringen, dass er nicht dasselbe empfand wie sie, wälzte sich wie ein Mühlstein auf sein Gewissen. Aber sagen – sagen musste er es ihr. Nur nicht in einem Brief.
Von Angesicht zu Angesicht würde er es ihr sagen. Sobald er wieder zu Hause war. Irgendwie.
2nd Lt. Leonard Hainsworth, 1. Batt. R. Sussex,
4. Inf. Brig. Maj. Gen. Sir Evelyn Wood
Cairo, den 1. Oktober 1882
Meine liebe Grace,
mach Dir keine Sorgen, uns geht es allen wieder gut – sehr gut sogar! Wir fünf sind putzmunter und zu allen Schandtaten bereit. Das glaubst Du mir natürlich aufs Wort, nicht wahr? Ist aber halb so wild; tatsächlich stellen wir tagtäglich ein Musterbeispiel an Pflichtbewusstsein und Gewissenhaftigkeit dar, wie man es von uns jungen Offizieren erwartet. Colonel Norbury wäre gewiss zufrieden mit uns.
Es war ein triumphaler Einzug in die Stadt und ein grandioser Anblick, wie wir in Reih und Glied vor dem Palast des Khediven aufmarschiert sind, in den Farben all unserer Regimenter. Und noch mehr, als wir die Zeremonie des »Heiligen Teppichs«, wie wir sie salopp genannt haben, mit militärischen Ehren begleiteten. Tatsächlich handelt es sich um einen Überwurf, als »kiswah« bezeichnet, der in Mekka das Heiligtum der Kaaba bedeckt, aus Yards und Yards schwarzer Seide und mit Fäden aus Gold und Silber bestickt. Jedes Jahr wird ein neuer Überwurf hier in Ägypten gefertigt, und jedes Jahr wird er in einer feierlichen Prozession von der Zitadelle oben über der Stadt durch die Straßen getragen, auf einem besonderen Gestell auf dem Rücken eines Kamels und umringt von zahllosen Gläubigen, bevor er mit den Pilgern auf die Reise nach Mekka geht. Eine sehr fremdartige Zeremonie war das, fremd in Sprache und Ablauf und gerade deshalb ungeheuer faszinierend; es war
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