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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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schwollen an zu ihrem wehmütigen Gesang in den weichen, biegsamen Lauten des Arabischen und fluteten über die Dächer Cairos hinweg. Selbst hier, in der Kaserne von Qasr el-Nil, drangen die Gebetsrufe in jeden Winkel, durch die Ritzen der gegen die grelle Sonne des Tages geschlossenen Fensterläden und die fast überall geöffneten Türen, die noch den geringsten Lufthauch in die Räume einsaugen sollten. In den neun Monaten, die sich die Brigade aus Alexandria nun schon in Cairo aufhielt, waren die Rufe von den Minaretten, in Alexandria noch verstörend neu und fremd, zu einem vertrauten Klang geworden. Von vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang maßen die Muezzine den Tag ab, gaben den größeren Rahmen vor für den enger getakteten Tagesablauf in der Kaserne, gegliedert durch die schmetternden Tonfolgen des Signalhorns.
    In unmittelbarer Nachbarschaft zum Palast des Khediven auf der einen Seite und der großen Brücke hinüber nach al-Gazirah auf der anderen, klebte die Kaserne am Ufer des Nils wie ein riesiges, auf dem Bauch liegendes »E«. Die beiden Innenhöfe lagen zum Fluss hin offen, umschlossen noch niedrige Baumgruppen und eine Anzahl von Versorgungsgebäuden, und die quer stehenden Gebäudeteile, die Arme dieses »E«, reichten bis zum Wasser hinab. Nach orientalischen Maßstäben war es ein nüchterner Zweckbau, der dennoch nicht ohne einen gewissen Zierrat in Form von Säulen und Arkaden auskam.
    »Gib ab, du Nase!« – »Dir mach ich Beine!« – »Hier! Hier!!«
    Männerstimmen prallten an den Wänden ab, vervielfachten sich in ihrem Schall und klangen in ihrem Übermut irritierend hoch und jung, wie eine Horde Schulbuben beim Toben. Jeremy stützte sich im mittleren der drei Stockwerke auf das Geländer der Galerie und sah mit einem verhaltenen Schmunzeln in den Hof hinab. Teils in Hemdsärmeln, den Stoff bereits schweißnass auf der Haut, teils mit nacktem Oberkörper kämpften Royston, Simon und Stephen mit einer Handvoll junger Offiziere des Berkshire und des South Staffordshire um einen Rugbyball.
    Jeremy schob sich vom Geländer weg und ging im Schatten der überdachten Galerie an den offen stehenden Türen vorbei, trat schließlich in den kahlen, nur spärlich eingerichteten Raum, den er sich mit Stephen teilte und der hinter den hölzernen Läden im Halbdämmer lag. Den Zettel in seiner Hand ließ er auf den grob zusammengezimmerten Holztisch flattern und riss die Knöpfe seines Uniformrocks auf. Der Kalender zeigte erst Mai, und der kommende Sommer drohte mit noch größerer Hitze, einer Hitze, die ihnen im Jahr zuvor im kühleren, stets von einer Meeresbrise umwehten Alexandria erspart geblieben war. Mit einem erleichterten Aufatmen streifte er den Rock ab und hängte ihn über die Stuhllehne, wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht, bevor er die obersten Knöpfe des Hemds öffnete und die Manschetten mehrmals umschlug, bis weit über die von dunklen Härchen bedeckten Unterarme hinauf. Lehmhell waren sie noch, während seine Hände, sein Gesicht und sein Hals unter der Sonne die Farbe englischen Mutterbodens angenommen hatten, auf den es lange nicht mehr geregnet hatte. Jeremy bräunte leicht und schnell, das Erbteil seines walisischen Vaters, wie die kräftigen Farben seiner Haare und Augen.
    Sein Mund zog sich einen Deut in die Breite, als sein Blick auf den Ärmel des Rocks fiel. Er griff danach, und sein Daumen strich über den aufgenähten Streifen darauf, erst ein paar Tage alt. Jeremys Herz schlug kräftiger. Lieutenant. Lieutenant Jeremy Danvers.
    Von all seinen kleinen und großen Erfolgen seit seiner Zeit als Schuljunge am Christ’s Hospital in Lincoln hatte er sich für den Orden und für die Beförderung zum Lieutenant am wenigsten anstrengen müssen. Er hatte nur seine Pflicht getan, Befehle entgegengenommen und weitergegeben, und dennoch war ihm der Lohn dafür nicht weniger wert, für all die Kämpfe, die er davor ausgefochten hatte.
    Jeremy ließ sich auf den Stuhl fallen, legte die Füße in den Stiefeln auf den Tisch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das Gebetslied der Muezzine war verklungen, von unten drang das Johlen der Rugbyspieler herauf, und aus der Ferne flossen die Klänge der Stadt heran: Hufgeklapper von Pferden und Eseln, Räderknirschen, Rufe aus rauen Kehlen. Wie ausgedünnt wirkte dieser Klangteppich jetzt, während des Gebets der Muslime, und Jeremy wartete reglos, bis er sich wieder dichter wob und zu dem

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