Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
gar nicht so leicht, dabei strammzustehen, Augen geradeaus, wenn es doch so viel zu sehen gab. Dir hätte es bestimmt gefallen, dabei zu sein!
Unser Lager haben wir in al-Gazirah aufgeschlagen. Wie ein stilles, verwunschenes Boot liegt diese Insel mitten im Nil, durch eine breite Brücke mit Eisengeländer und Löwenstatuen an den Brückenköpfen mit dem Ufer verbunden. Wunderschön ist es hier: Vornehme Wohnhäuser säumen die ruhigen, baumbestandenen und deshalb schattigen Straßen. Wer hier lebt, mit dem hat Fortuna es wirklich gut gemeint. Sogar einen Sportclub gibt es! Und natürlich einen Palast, vom vorigen Khediven erbaut, mit pastellfarbenen Bögen und Säulen und mit gusseisernen Gittern wie aus fein gewebter Spitze – märchenhaft, wie aus Tausendundeiner Nacht. »Jardin des Plantes« wird al-Gazirah auch genannt, wegen seiner vielen Gärten, allen voran der Botanische Garten des Khediven. Ein lauschiges Stückchen vom Paradies also – und mittendrin sitzen nun wir, die britische Armee, mit unseren Zelten und unserem militärischen Krimskrams. Ein scharfer Kontrast, wie Du Dir vielleicht vorstellen kannst.
Ich find’s famos, dass ihr wieder ans College wollt, Du und Ads! Sis würde es gewiss auch nicht schaden, ihr Näschen häufiger in Bücher zu stecken und sich etwas weniger mit Modemagazinen und Gesellschaftsklatsch zu beschäftigen. Apropos: Falls Du meiner nachlässigen kleinen Schwester einmal schreibst, richte ihr doch bitte aus, dass Royston sich nach einigen Zeilen aus ihrer Feder verzehrt. Vielleicht schlägt sie eine Ermahnung von Dir nicht in den Wind, wie sie es bei ihrem großen Bruder tut. Royston lässt mir sonst nämlich keine Ruhe und raubt mir mit seinem Gejammer nach dem Zapfenstreich noch den Schlaf! Kleiner Scherz. Ich bin froh, dass ich ihn und die anderen um mich habe, das lindert mein Heimweh doch etwas, ungeachtet dessen, was es hier alles zu sehen und zu entdecken gibt, während wir unseren doch recht eintönigen Dienst versehen.
Du allerdings fehlst mir ungeheuer, Grace, mehr, als ich sagen kann. Bitte schreib mir so oft wie möglich. Ich freue mich über jede Zeile von Dir.
Dein Len
21
Das Feuer im Kamin knisterte und verbreitete eine wohltuende Wärme und ein Gefühl von Behaglichkeit. Grace gähnte herzhaft und schlug ihre Bücher eins nach dem anderen zu, sammelte die Blätter mit ihren Notizen ein und stapelte im Aufstehen alles oben auf den Sekretär.
In zwei Schritten war sie an dem Tischchen unter einem der Fenster und goss sich eine Tasse Tee ein, heiß gehalten von dem Réchaud unter der Kanne, blies in den aufsteigenden Dampf und nippte dann vorsichtig daran. An den großen Tischen der Bibliothek im ersten Stock hätte sie mehr Platz zum Arbeiten gehabt, aber Grace schätzte es, hier oben, auf ihrem Zimmer, ungestört zu sein. Außerdem mochte Grace diesen Raum, der gerade durch seine Enge heimelig wirkte. Ein schmales Bett stand an der Wand neben der Tür, ein zweites unter dem linken Fenster. Dazwischen drängten sich ein für zwei Mädchen viel zu kleiner Kleiderschrank und ein mit Büchern und Notenstapeln vollgestopftes Regal. Unter das mittlere Fenster war Adas Zeichentisch gerückt, übersät mit Farbtuben, Pinseln, Stiften und Kreidestückchen; auf dem Skizzenblock darunter war ein halb fertiges Stillleben zu erkennen, eine Porzellanschale mit einem Strauß exotischer Treibhausblumen. Ein Paravent mit Bambushalmen im Stil einer Tuschezeichnung, über dem noch Adas Tageskleid hing, verbarg den Waschtisch in der Ecke, und vor dem Kamin hatte gerade noch ein Ohrensessel nebst Fußbank Platz gehabt. Grace undAda wechselten sich darin ab, wer von ihnen im Sessel und wer auf dem Hocker saß, wenn sie beide lasen oder bis in die Nacht hinein noch redeten.
Irgendwo im Gemäuer rumpelte und sirrte es in den Rohren. Dann verriet gleichmäßiges Rauschen und Plätschern, dass eines der Mädchen sich im Badezimmer auf dem Gang ein heißes Bad einließ. Ein Stockwerk höher übte die klare Sopranstimme von Katherine Haversham Tonleitern, und vor der Tür gingen zwei Mädchen plaudernd vorüber, von denen das eine anhand seines undamenhaft schallenden Gelächters unzweifelhaft als Maud Denbrough auszumachen war.
Grace stellte die halb geleerte Tasse auf der Schreibplatte des Sekretärs ab, drehte die Lampe etwas herunter und setzte sich wieder. Sie nahm den geöffneten Brief zur Hand, der seit dem späten Nachmittag an der Bücherreihe im Sekretär lehnte, und
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