Jenseits des Spiegels
Kostüm. „Also, Fünfundsiebzig ist schon ziemlich alt“, überlegt er laut.
„Pal von unter den Wolfsbäumen!“, keifte da eine kratzige Stimme zu uns herüber.
Pal duckte sich, als hätte er Angst, gleich eine übergebraten zu bekommen, und sah sich unsicher um. „Oh nein.“
Pal von unter den Wolfsbäumen? War er mit dieser Atzaklee verwand? Die hieß doch auch so, oder täuschte ich mich da?
Ich folgte seinem Blick. Um die Hauseckte bog eine ältere Frau, die mit großen Schritten resolut auf uns zuhielt. Sie hatte langes, graues Haar, das ihr fast bis in die Kniekehlen reichte. Es war zu vielen dünnen Zöpfen geflochten, und mit Federn, Perlen, und lederschnüren verziert. Sie war kleiner als ich, fast winzig. Um Augen und Mund hatte sie tiefe Falten, und doch wirkte sie irgendwie Zeitlos.
Sie hielt direkt auf Pal zu, schnappte ihn sich so schnell am Ohr, dass er gar nicht ausweichen konnte, und zog ihn zu sich herunter.
„Au au au au au!“
Ich ließ ihn los, und trat hastig zurück. Egal was jetzt kam, ich wollte nicht mit hineingezogen werden.
„Hast du mich gerade alt genannt?“, fragte sie mit ruhiger Stimme.
„Nein, natürlich – au! – nicht.“ Er versuchte ihre Hand von seinem Ohr loszumachen. Zwecklos, der Griff war eisenhart. „Ich habe ihr nur gesagt, dass du dich gerade – au! – in der Blüte deiner Jahre befindest, so wunderschön, dass du immer noch reihenweise Männerherzen brichst, und dir auch heute niemand wiederstehen kann.“
Ihr Mundwinkel zuckte, nur ganz kurz, aber ich sah es genau. „Ist das die Art, wie man dem Geburtstagskind anständig gratuliert?“ Sie kniff die Augen zusammen, und ließ von ihm ab.
Missmutig rieb er sich über sein schmerzendes, rotes Ohrläppchen, und warf der Frau einen bösen Blick zu. „Ich hatte ja noch nicht mal die Gelegenheit dir zu gratulieren.“
„Die Zweite Sonne steht bereits am Himmel, du hattest genug Zeit. Du bis mir aus dem Weg gegangen.“
Zweite Sonne?
„Bin ich gar nicht“, grummelte er wie ein kleiner Junge, der eine Standpauke erhielt, weil er an der Keksdose genascht hatte.
Die Frau – Werwölfin? – schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du und deine ständigen Widerworte. Jetzt stehe ich seit zwei Minuten hier, und wurde von dir immer noch nicht in den Arm genommen. Geht man so mit dem Geburtstagskind um?“
Ich konnte praktisch spüren, wie Pal die Augen verdrehte. Trotzdem beugte er sich vor, und drückte die Kleine Frau an seine stolze Brust. „Alles Gute zu deinem fünfundsiebzigsten Jahr, Naara.“
„Na geht doch.“ Sie ließ ihn los, und wandte sich in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen war. „Und nun komm, Febe und Banu warten schon. Das Mädchen kannst du auch mitnehmen.“
„Wie gnädig“, murmelte er.
„Das habe ich gehört“, teilte sie ungerührt mit, und führte uns zu der Baumumringten Freifläche in der Mitte des Lagers. Hier war richtig was los. Überall standen und tanzen Leute. Es gab einen langen Tisch mit einem Büffet, ein Lagerfeuer, und alles war mit Blumengirlanden geschmückt. Ein paar Gesichter erkannte ich wieder. Fang, der mit der Raupe als Augenbraue tanze mit der riesigen Heilerin Rem. Aber nicht so wie ich es kannte. Es hatte mehr etwas von einer indianischen Note. Domina rannte laut lachend vor dem Kerl mit der Narbe an der Schläfe davon. Kinder flitzten umher, man drängte sich am Büffet, und fütterte sich gegenseitig. Vereinzelt mischten sich auch ein paar Wölfe unter die Leute, aber am interessantesten fand ich die vier Musiker. Solche Instrumente hatte ich noch nie gesehen. Naja, gut, die Trommel schon, aber nicht den langen Starb mit den Löchern, der auf den ersten Blick an eine Flöte erinnerte. Nur dreimal so lang. Und es wurde auch nicht hineingeblasen. Das Instrument lag auf dem Schoss der blonden Frau, mit den zwei Zöpfen, die gestern neben Pal vor dem Flimmerglas gesessen hatte. Sie hielt in verschiedenen Kombinationen die Löcher zu, und erzeugte damit Klänge, ähnlich einer Gitarre.
Der breite Mann neben ihr, hielt einen Metallring in der Hand, und je nachdem wo er ihn berührte, entstanden andere Klänge. So was hatte ich noch nie gehört. Ich wusste nichts, mit dem ich diese Töne vergleichen sollte. Sie waren tief, herb, und sie vibrierten bis auf die Knochen.
Vor den beiden auf dem Boden saß ein Mann mit dunkelbraunem Haar. In seinem Schoss lag eine längliche, ovale Platte, aus dem gleichen Material wie das Flimmerglas. Er
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