Jenseits des Windes
Bis heute konnte er sich nicht erklären, weshalb er Hals über Kopf die Armee verlassen hatte. Es war eine dumme Entscheidung gewesen, aber jetzt musste er das Beste daraus machen.
Ein lautes Rumpeln, gefolgt von einem Schrei und einem Knall, rissen Kjoren aus seinen düsteren Gedanken. Canet riss am Zügel und verdrehte die Augen. Er tänzelte nervös zur Seite. Kjoren hatte Mühe, das Tier zu beruhigen. Mit festem Griff hielt er das Zaumzeug umklammert, während er die Straße mit Blicken absuchte, um den Verursacher des Lärms auszumachen. Zwei Männer hielten einen dritten an den Armen gepackt und schleiften ihn über die Straße. Der Gefangene wehrte sich nach Kräften. Die Männer sahen aus wie gut gekleidete Valanen. Einer von ihnen hielt einen Revolver. Ihr Opfer war zweifelsohne ein Firune, obwohl er kein Halsband trug. Seine Haare glänzten hell in der Sonne und seine Augen leuchteten blau. Er trat um sich, traf jedoch nur Luft. Kjoren fuhr ein Schreck durch die Glieder. Er wusste genau, welche Strafe einem Firunen drohte, der sich nicht an die Gesetze hielt. Schon unter König Adoran war es strikt verboten gewesen, ohne Halsband auf die Straße zu gehen, doch seit der neue König regierte, waren die Gesetze weiter verschärft worden. Es gab eine Ausgangssperre für Firunen, außerdem hatte man sie teilweise enteignet und in speziellen Stadtvierteln untergebracht, wo sie weitgehend unter sich blieben. Kjoren schätzte sich glücklich, dass Kelly und Gord keinen Unterschied machten. Sie hatten ihm trotz seiner Abstammung Arbeit angeboten. Kjoren schluckte und starrte wie gebannt den Valanen hinterher, die den Firunen auf die Ladefläche eines Wagens zerrten. Der Fahrer ließ die Zügel knallen, das Gefährt ruckte an und verschwand wenige Augenblicke später hinter einer nahen Biegung. Die Schreie des Firunen gingen erst sehr viel später im allgemeinen Stadtlärm unter.
Kjoren beschleunigte seine Schritte. Bloß schnell weg von hier. Unwillkürlich fasste er sich an sein Halsband aus Bluteisen, das er vor vielen Jahren mit bunten Federn beklebt hatte, schon damals eine Geste des Trotzes. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen für alle Angehörigen seiner Rasse erfüllte ihn mit Hass und Wut. Der Zorn steigerte sich, bis er seine Eingeweide regelrecht zu verbrennen schien. Der kindische Wunsch, sich an den Eroberern zu rächen, die sich mit Gewalt einnisteten und sein Volk zu einem Leben in Armut zwangen, stieg auf. Er war sich über die Sinnlosigkeit seiner Rachegedanken bewusst, denn er würde niemals etwas an den Umständen ändern können. Er rang seine Emotionen nieder und beschleunigte seinen Gang noch weiter. Canet schnaubte und tänzelte Schritte zur Seite, da Kjoren ihn etwas unsanft am Zügel riss.
Er senkte den Blick und starrte den Rest des Weges auf seine Füße. Er wollte den Verfall der Stadt nicht mehr sehen. Er hob nicht einmal den Kopf, als sich dicht neben ihm auf dem Gehsteig zwei Männer prügelten. Er hörte einen Knochen knacken, dicht gefolgt von einem markerschütternden Schrei, doch er zog es vor, die Staubwolken, die seine Schuhe aufwirbelten, zu beobachten. Erst als er das Stadtviertel weit hinter sich gelassen hatte und in eine gepflegte Nebenstraße des Valanenviertels einbog, wagte er, den Blick zu heben. Canets eisenbeschlagene Hufe trappelten gleichmäßig über den sorgfältig gepflasterten Gehsteig und fanden ihren Widerhall an den steinernen Wänden. Ein Wohnviertel für Besserverdienende. Die Häuser wiesen allesamt zwei bis drei Stockwerke auf und bestanden größtenteils aus massiven Steinblöcken oder Ziegeln. Fensterscheiben glitzerten, es gab sogar Vorgärten, die jetzt im Herbst allerdings struppig überwuchert waren. Kjoren kannte beinahe jede Straße und jede Abkürzung von Budford. In den letzten Wochen gehörte es neben den täglich anfallenden Stallarbeiten auch zu seinen Aufgaben, Pferde abzuholen und auszuliefern.
Kjoren machte es nichts aus. Doch seit einigen Wochen wurde es zunehmend gefährlicher auf Budfords Straßen, erst recht für einen Firunen. Anfangs hatte Kjoren jeden Tag befürchtet, man würde ihn wegen Fahnenflucht fassen, doch nach einer Weile hatte er die Angst abgelegt. In Budford kümmerte sich kaum jemand um seinen Nachbarn, niemanden interessierte es, was sein Nebenmann tat oder nicht tat. Seit der neue König den Thron bestiegen hatte, breiteten sich Missgunst und Hass aus wie Gift. Seit Tagen patrouillierten sogar Soldaten, was
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