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Jenseits von Timbuktu

Jenseits von Timbuktu

Titel: Jenseits von Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gercke Stefanie
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gekommen sind. Schon vor Jahrzehnten. Anfang der Siebzigerjahre, glaub ich. Mehr nicht. Und jetzt scheint es, dass
beide Großeltern noch gelebt haben, als ich in Deutschland war, und dass meine Großmutter erst vor Kurzem gestorben ist … Und Mama hat mir nie etwas von ihnen erzählt. Ich verstehe das nicht.«
    Mit Tränen in den Augen schaute er hoch.
    Â»Ich meine, das tut man doch. Man erzählt Anekdoten über Menschen, die es nicht mehr gibt, man beschreibt sie, wie sie aussahen, wie sie waren. Was sie mit ihrem Leben gemacht haben. Man kann doch Menschen wiederauferstehen lassen, wenn man über sie spricht, oder? Aber sie  – sie hat sie totgeschwiegen, und ich habe keine Ahnung, warum.« Ihm rutschte die Stimme weg.
    Die Ameisen schwärmten den Stock hinauf und sprangen ihm auf den Arm. Er schleuderte den Stock von sich, packte eines der Insekten, das sich im Unterarm festgebissen hatte, drehte es samt Kopf heraus und zerdrückte es. Die winzige Wunde blutete. Maurice presste seinen Daumen darauf.
    Unvermittelt tat Dirk dieser Mann sehr leid, dessen Welt, so wie er sie kannte, soeben unwiderruflich auseinandergefallen war. Schnell ließ er sein geübtes Reporterauge über ihn gleiten. Maurice wirkte fast zerbrechlich, das dunkle Karamellbraun seiner Haut hatte einen fahlen Unterton bekommen. Die ganze Sache musste ihn völlig aus der Fassung gebracht haben. Aber er schien der Schlüssel zu dieser Geschichte zu sein. Weiße Frau, brauner Sohn. Nach Maurice’ Alter zu urteilen  – er schätzte ihn auf Ende dreißig  –, war er zur Zeit der schwärzesten Apartheid zur Welt gekommen und aufgewachsen. Was Dirk auf seinen früheren Besuchen in Südafrika erlebt hatte, ließ darauf schließen, dass Maurice’ Kindheit und Jugendzeit die Hölle gewesen sein musste. Was mit Sicherheit auch für Cordelia Carvalho zutraf.
    Er rieb sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. Interessante Geschichte. Außerordentlich interessante Geschichte. Geradezu
unwiderstehlich. »Wie alt bist du?«, fragte er betont sanft. »Bist du auch hier geboren?«
    Maurice beförderte gerade die hundertste Ameise ins Jenseits. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin in Deutschland geboren, 1972.« Er machte eine Pause, versank wieder tief in Gedanken. »Gleich nach der Geburt bin ich von Deutschen adoptiert worden. Mein voller Name ist Maurice Beckmann. Beckmanns waren Freunde von meiner Mum in Deutschland, die keine Kinder bekommen konnten. Ich habe sie geliebt. Liebe sie noch heute. Es sind durch und durch gute Menschen.« Wieder eine lange Pause.
    Dirk verhielt sich ruhig und ließ ihn reden. Das brachte nach seiner Erfahrung fast immer verborgene Dinge zum Vorschein, die es ihm dann ermöglichten, die richtigen Fragen zu stellen.
    Maurice blickte auf den Boden. »Meine Mutter hat mir oft geschrieben«, murmelte er. »Und immer wenn sie genug Geld zusammenkratzen konnte, hat sie mich besucht. Dann hat sie mir von Afrika erzählt … Und sie beschrieb eine paradiesische Welt, voller Licht und Wärme …« Seine Miene wurde träumerisch. »Die Beckmanns wohnten in einem Mietshaus. Es war eine schöne, große Wohnung, aber wir hatten keinen Garten, nur einen Balkon mit Geranienkästen. In meiner Freizeit habe ich Fußball hinter dem Haus gespielt, und Mama erzählte von Jungs, die auf Surfbrettern die Brecher des Indischen Ozeans ritten oder nach Langusten tauchten und angelten. So ein Leben war unvorstellbar für mich.«
    Er schwieg, grub mit den Zehen Furchen in die rote Erde.
    Â»Allein das«, fuhr er fort, »Indischer Ozean  – das klang nach Unendlichkeit, nach glitzerndem Licht … nach Freiheit.« Er seufzte. »Mum erzählte von Streifzügen durch unberührte Wildnis und Begegnungen mit wilden Tieren, die ich nur aus dem Zoo kannte, und schließlich wusste ich nicht mehr, wohin und zu wem ich gehörte. Meine Adoptiveltern liebten mich so sehr,
dass sie meiner Mutter sagten, sie solle mich zu sich nach Afrika nehmen. Ich glaube, meiner Beckmann-Mama hat es das Herz gebrochen, aber sie hat mich gehen lassen.« Er ließ den Kopf hängen und verstummte, ganz in seinen trübsinnigen Gedanken verfangen.
    Die stockend vorgetragene Geschichte ging Dirk zunehmend unter die Haut. Eine Geschichte von großer Liebe und Verlust, und von einem

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