Jenseits von Timbuktu
Aufenthaltsraum saÃen. Wie jeden Tag hatte Anita ihre Mutter besucht
und ihr zur BegrüÃung als Erstes die pflaumenweiche Wange geküsst.
Ihre Lippen trafen auf kalten, harten Marmor. Ihrer Mutter war die Flucht gelungen.
Anita blieb mit ihrem ungestillten Hunger nach Antworten zurück. Es lebte niemand mehr, den sie hätte fragen können. Ihre Familie gab es nicht mehr. Geschwister hatte sie nicht. Ihre GroÃeltern mütterlicherseits waren tot, die Eltern ihres Vaters aus Brasilien hatte sie nie kennengelernt. Selbst auf das Telegramm, das ihnen 1985 den Tod ihres Sohnes meldete, hatte es keinerlei Antwort gegeben. An dieselbe Adresse schrieb sie ihnen, dass nun auch ihre Mutter, gestorben sei, aber niemand nahm mit ihr Kontakt auf. Sie war allein auf der Welt. Ein Gefühl, so knochenkalt wie ein eisiger Wintertag.
Allein sein, das hatte sie nie als schlimm empfunden. Es war immer vorübergehend gewesen, bis Frank wiederkam oder früher ihre Eltern. Einsamkeit aber öffnete Tore zur Dunkelheit, in der Träume und Hoffnungen verdorrten.
Als an jenem Tag, an dem ihre Mutter gegangen war, die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, sie vom Flur aus durch die offene Schlafzimmertür ihr groÃes, leeres Doppelbett sehen konnte, überwältigte sie ein so groÃer Zorn auf das Schicksal, das ihr jeden Menschen genommen hatte, den sie geliebt hatte, dass sie schreiend ins Schlafzimmer rannte. Mit aller Kraft warf sie die kleine, elegante Skulptur eines Flusspferdes, die Frank ihr geschenkt hatte, gegen den riesigen Spiegel von GroÃmutters Wäscheschrank. Der zerbarst in einem glitzernden Splitterregen. Sie riss die Schranktüren auf, zerrte den Inhalt heraus, fegte mit einer Armbewegung alles von den Kommodenoberflächen auf den Boden und trampelte es in die knirschenden Spiegelscherben. Sie verwüstete das Zimmer, in dem sie mit Frank so himmlisch glücklich gewesen war, bis nur ein Trümmerhaufen übrig blieb.
Später  â ob es Minuten oder Stunden waren, hätte sie nicht sagen können  â fand sie sich wieder der Länge nach in dem zertrümmerten Zimmer liegend, übersät mit Glassplittern, aus zahlreichen kleinen Wunden blutend, und war so ausgepumpt, dass sie es nur mit Mühe schaffte, sich hochzustemmen. Kaum stand sie, musste sie sich festhalten, um nicht wieder umzufallen. Sie kroch zum Bett und warf sich auf die zerwühlte Decke.
Allein.
Die Beerdigung erlebte sie hinter einer zentimeterdicken Milchglasscheibe. Ihre Haut war klamm und ohne Empfindung, in ihrem Kopf war nichts als eisige Schwärze. Die tröstenden Worte der anderen erreichten sie nur als ein Strom unverständlichen Gemurmels, die Umarmungen und Küsse ihrer Freunde spürte sie nicht.
Der Schock, der sie lähmte, wurde nicht nur durch den Tod ihrer Mutter verursacht. Auch lag es nicht daran, dass diese jetzt eineinhalb Meter unter einem efeubedeckten Erdhügel lag und ihr Körper langsam seine irdische Gestalt verlor. Ihre Mutter, die sie so heià geliebt hatte, war ihr zu einer völlig Fremden geworden. Ihre Schockstarre hatte einen anderen Grund.
Es hatte damit begonnen, dass sie das verschlossene Geheimfach des Sekretärs in der Travemünder Wohnung öffnen musste, weil die Behörden neben der Sterbeurkunde auch das Familienbuch benötigten, ehe sie den beantragten Erbschein ausstellen konnten. Bei der Aussicht, im Geheimsten ihrer Mutter wühlen zu müssen, wurde Anita schlecht. Aber es musste sein. Widerwillig durchsuchte sie die Handtasche, die ihr mit dem übrigen Nachlass vom Pflegeheim ausgehändigt worden war, und fand einen Schlüsselbund. Es kostete sie Ãberwindung, die Schlüssel auszuprobieren und das Fach aufzuschlieÃen, so wie es sie groÃe Ãberwindung gekostet hatte, den Wäscheschrank ihrer Mutter aufzuräumen.
Ein staubig süÃlicher Geruch schlug ihr entgegen. Das Fach
enthielt eine Dokumentenmappe zusammen mit dem Familienbuch und einer flachen Messingkassette. Die Dokumente waren vollständig, und sie legte die, die sie nicht brauchte, erleichtert zurück. Dann stand sie auf, nahm die Kassette, um sie zurückzustellen, schüttelte sie aber impulsiv. Es gab nur ein raschelndes Geräusch, doch der Deckel sprang überraschenderweise auf. Innen lag ein Briefumschlag, nichts weiter. Sie hob ihn hoch.
Er war offen. Eine Handvoll vergilbter, stockfleckiger
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