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Jenseits von Timbuktu

Jenseits von Timbuktu

Titel: Jenseits von Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gercke Stefanie
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Anita keine Erklärung. Beschämt über ihren Ausbruch, sah sie hinunter auf die Kranke. Nur deren flaches Atmen verriet, dass sie noch lebte. Ihre Haut war gelblich. Sie sah so zerbrechlich aus, so furchtbar hinfällig, dass Anita vor Scham kaum Luft bekam. Sie ergriff die zarte Hand ihrer Mutter, küsste sie, stammelte, wie sie ihr fehle, wie sehr sie sie liebe. Aber ihre Mutter reagierte nicht, nicht einmal mit einem Flattern der Lider oder einem Zucken der Mundwinkel. Sie lag nur da. Eine uralte, spröde gewordene Elfenbeinskulptur.
    Anitas Absicht, sich abzulenken, ihren Zorn zu mildern, indem
sie zurück ins Kosmetiklabor ging und bis zum Umfallen arbeitete, misslang. Sie schaffte es nur bis zum Eingang der Fabrik. Nicht weiter. Der Pförtner winkte ihr zu und öffnete die automatische Tür. Aber sie stand davor wie gelähmt. Die Tür glitt wieder zu. Sie sah am Gebäude hoch. Die Morgensonne reflektierte von den unzähligen Fenstern. Geblendet von den Lichtblitzen, wanderte ihr Blick zurück zur gläsernen Eingangstür, wo sie sich ihrem eigenen Spiegelbild gegenübersah, das sie verzerrt aus der Glastür anstarrte. Ab und zu huschten schemenhafte Schatten durch ihr körperloses Abbild. Die Äffchen? Ihr standen die Haare zu Berge.
    Sie wirbelte herum und rannte davon. Am nächsten Tag kündigte sie. Glücklicherweise besaß sie genug Ersparnisse, und Frank hatte ihr alles hinterlassen, was er besaß. Es war mehr als genug, sodass sie sich für eine Weile über ihren Lebensunterhalt keine Sorgen zu machen brauchte. Immer noch in ihrem tiefsten Inneren zornig, kehrte sie ans Krankenbett ihrer Mutter zurück.
    Jeden Tag saß sie da, redete mit ihrer Mutter, hielt ihre Hand, aber sie hätte ebenso gut mit einer Puppe reden können. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Von der immer wieder aufflackernden, allmählich nicht mehr zu bändigenden Rage getrieben, machte sie sich daran, den Sekretär ihrer Mutter, der im Erker ihrer kleinen Travemünder Wohnung stand, zu durchsuchen, in der Hoffnung, dort endlich Antworten zu finden. Versteckt hinter einem Paneel, gab es ein Geheimfach, das wusste sie, aber das war verschlossen.
    Aus der untersten Schublade förderte sie jedoch einen Stapel verfleckter Schreibhefte zutage. Ihre Aufregung stieg, als sie feststellte, dass sie einen Bericht über die Reise ihrer Eltern durch Afrika in Form von Tagebüchern enthielten. Mit jagendem Herzen blätterte sie die Hefte durch, bis zum Ende, die inständige Hoffnung im Herzen, endlich zu erfahren, was damals in Natal geschehen war.

    Aber sie wurde abermals enttäuscht. Die Aufzeichnungen hörten abrupt im Sommer 1972 auf. Die folgenden Seiten waren bis auf wenige herausgerissen, weitere Hefte konnte sie nicht finden. Sie war so enttäuscht, dass sie die Hefte beiseitelegte und einen langen Spaziergang machte. Am nächsten Tag holte sie die Tagebücher wieder hervor. Die Eintragungen waren meist in der Schrift ihrer Mutter, gelegentlich auch von ihrem Vater, und einigermaßen gut zu lesen.
    Sie fing am Anfang an, den offenbar ihre Mutter geschrieben hatte.
    Unser Traum beginnt im Hafen von Hamburg an Bord eines nach Maschinenöl stinkenden Frachters, der uns mit nach Dakar nehmen wird. Die Kabine ist stickig, es gibt massenweise Kakerlaken, wir müssen für unsere Passage arbeiten, das Essen ist schlecht … aber hinter dem Horizont liegt Afrika … und Timbuktu.
    So begann der Bericht. Nachdem Anita die ersten Seiten gelesen hatte, polsterte sie ihre eigenen Notizen mit Stichworten aus dem Text ihrer Mutter aus. Wurde immer aufgeregter. Fand sie Lücken in den Aufzeichnungen, konnte sie diese oft mit ihren eigenen Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Eltern auffüllen. Versagte ihr Gedächtnis, tastete sie sich weiter, stellte sich vor, wie es gewesen sein musste. Mehrere Schreibblöcke füllte sie auf diese Weise und fühlte sich danach merkwürdig erleichtert. Ihr Zorn zog sich zurück, und eines Tages wurde ihr klar, dass aus der Geschichte ihrer Eltern ein Buch werden musste.
    TIMBUKTU würde sie es nennen.
    Einen Psychotherapeuten suchte sie nie auf.
    Â 
    Am Ende gelang ihrer Mutter der Selbstmordversuch doch noch. Sie starb an seinen Folgen nach fünfzehn quälenden Monaten im Pflegeheim. Es passierte an einem Sonntag, als die Schwestern bei Kaffee und Kuchen zusammen in ihrem

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