Jenseits
nur los mit mir? Abgesehen vom Offensichtlichen, natürlich. Wie in aller Welt war ich auch nur für eine Sekunde darauf gekommen, dass es etwas mit mir zu tun haben könnte? Jade hatte recht: Ich durfte das alles hier nicht so eng sehen. Schließlich war es nur die Schule.
»Und ich denke, ihr wisst, welchen Teil der Stadt ich meine«, fuhr der Polizeichef fort.
Mittlerweile hatte sich auch die Haltung der anwesenden Polizisten verändert, wie mir auffiel. Wie ihr Chef hatten sie die Hände jetzt an den Griffen ihrer Pistolen. Sie meinten es also ernst.
»Als euer Direktor zu mir kam«, sprach Santos in sogar noch kontrollierterem Tonfall als bisher weiter, »sagte ich ihm, dass ich in der Tat nichts lieber tun würde, als hierher zu kommen, und …« An dieser Stelle beugte er sich über das Rednerpult und machte mit dem Zeigefinger eine Geste, als wolle er uns näher an die Bühne holen, um uns allen ein Geheimnis zu verraten.
Ganz im Gegensatz zu Direktor Alvarez war Santos ein so mitreißender Redner, dass ich tatsächlich schon nach vorne gehen wollte, bis mir gerade noch rechtzeitig einfiel, wie bescheuert das ausgesehen hätte. Was sollte der Polizeichef von Isla Huesos mir schon zu sagen haben? Er kannte mich nicht mal. Und wenn alles so lief, wie ich es mir erhoffte, würde es auch dabei bleiben.
»Nach dieser Veranstaltung möchte ich, dass ihr alle nach Hause geht und euren Eltern – von denen nicht wenige ebenfalls dieses ehrenhafte Institut besucht haben – sagt, dass Polizeichef Santos heute hier war, um über eine uralte Tradition auf Isla Huesos zu sprechen, die sicherlich viele eurer Eltern während ihrer eigenen Schulzeit mit großer Freude zelebriert haben. Und zwar möchte ich, dass ihr folgende Worte an sie richtet: ›Mom, Dad‹« – an dieser Stelle veränderte sich seine Stimme sowohl in der Tonlage als auch im Klang … und hallte durch die Aula, dass die Wände zu vibrieren begannen –, »›die Sargnacht ist für dieses Jahr abgesagt!‹«
Ein wutentbranntes Stöhnen ging durchs Publikum, gefolgt von empörtem Geflüster. Anscheinend waren die Anwesenden nicht gerade glücklich, dass sie ihre sogenannte Sargnacht dieses Jahr nicht feiern konnten.
Wo zum Teufel war ich hier nur gelandet?
»Leute«, sprach der Polizeichef weiter und hob die Hände, damit wieder Stille in der Aula einkehrte. »Das hättet ihr euch vorher überlegen sollen. Einige von euch sind letzte Nacht in den Friedhof eingebrochen und haben ihn verwüstet. Und zwar nicht nur eines der Mausoleen, sondern auch das Eingangstor.«
Ich starrte ihn an und wagte kaum zu atmen.
Der Friedhof.
Oh Gott.
Und das Tor, verbogen und aufgebrochen.
»Der Friedhof ist kein Spielplatz!« Die Stimme des Polizeichefs erhob sich jetzt zu einem donnernden Brüllen, das selbst Kayla aufschreckte, die ihr Handy sinken ließ und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Er ist ein Ort der Ruhe und des Friedens für die Toten. Die Grabmäler dort verdienen es, dass man sie mit Respekt behandelt. Ihr werdet sie nicht vor meinen Augen zu eurem eigenen kindischen Vergnügen entweihen. Kein Einziges davon! Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Die Anspannung in meinem Nacken stieg bis zum Zerreißen.
»Da ich jetzt eure volle Aufmerksamkeit habe«, sprach er wieder etwas leiser weiter, »möchte ich noch Folgendes hinzufügen: Das Friedhofstor bleibt – nachdem es repariert wurde, natürlich – bis auf Weiteres geschlossen. Nur falls einige von euch glauben sollten, ich würde es nicht ernst meinen. Und da der eine oder andere dumm genug sein dürfte, über den Zaun klettern zu wollen« – autsch –, »lasst euch gesagt sein: Meine Mitarbeiter werden das Gelände nachts bewachen. Da dies wiederum manche unter euch vor das Problem stellen dürfte, wie sie in Zukunft ihren verstorbenen Angehörigen die Ehre erweisen sollen, nun, niemand hält euch davon ab, einen entsprechenden Termin mit Friedhofsaufseher Richard Smith zu vereinbaren.«
Santos deutete auf einen älteren Herrn in einem eleganten Leinenjackett, leuchtend grüner Fliege am Hemdkragen und einem Strohhut auf dem Kopf. Der Mann saß auf einem Klappstuhl am Fuß des Podiums und hatte eine Aktentasche auf dem Schoß. Als Santos seinen Namen erwähnte, stand er auf, grüßte mit seinem Hut in unsere Richtung und setzte sich wieder.
Ich erkannte ihn sofort als den Mann, der mich bereits mehrere Male beschuldigt hatte, ich würde den Friedhof als öffentliche
Weitere Kostenlose Bücher