Jeremy X
entscheiden, sich zu ruinieren, wenn es darauf hinausliefe? Durfte er nicht alles tun, was er selbst für richtig hielt, um jemanden zu retten, den er so sehr liebte?
Geht es in Wirklichkeit darum? Geht es darum, dass der Ausschuss in seiner unermesslichen Weisheit für uns alle derartige Entscheidungen trifft? Was geschieht, wenn er zu dem Schluss kommt, er brauche keine weiteren zufälligen Variationen mehr? Was geschieht, wenn die einzigen Kinder, die noch zulässig sind, diejenigen sind, die ausdrücklich für ihre Star-Genome entwickelt wurden?
Jack nahm einen weiteren, größeren Schluck von seinem Whiskey, und seine Finger verkrampften sich um das Glas.
Du Heuchler, dachte er. Du bist ein beschissener Heuchler, Jack! Du weißt - du weißt schon seit vierzig Jahren! -, dass es genau das ist, was der Ausschuss für die ganzen ›Normalen‹ dort draußen im Sinn hat. Natürlich hast du noch nie in dieser Art und Weise darüber nachgedacht, oder? Nein, du hast bloß gedacht, wie viel Gutes das bewirken würde. Wie diese Kinder und deren Enkel und Urenkel euch allen dafür danken würden, ihnen zu gestatten, die Vorzüge einer systematischen Verbesserung der Spezies zu genießen. Klar, du wusstest natürlich, dass auch jede Menge Leute unzufrieden sein würden, dass sie nicht willentlich die Zukunft ihrer Kinder für jemand anderen aufgeben würden, aber das wäre doch richtig dämlich von denen, oder nicht? Das war doch bloß, weil diese Mistkerle von Beowulf sie einer Gehirnwäsche unterzogen hatten! Weil sie ganz automatisch Vorurteile gegen alles und jeden hegen würden, dem das ›Dschinn‹-Stigma anhaftet. Weil sie ignorante, nicht denkende Normale waren und nicht der Alpha-Linie angehörten wie du.
Aber jetzt - jetzt, da du siehst, wie das jemandem widerfährt, der ebenfalls zur Alpha-Linie gehört ... Jetzt, wo du siehst, dass es Herlander widerfährt, und dir klar wird, dass es auch deinen Eltern hätte passieren können, oder deinem Bruder, oder deinen Schwestern ... oder eines Tages sogar dir selbst. Jetzt stellst du plötzlich fest, dass du doch deine Zweifel hast.
Zitternd holte er tief Luft und fragte sich, wie die Wärme und Liebe und die Fürsorge seiner Familie diese dunkle, kahle Seelenumnachtung in ihm hatte kristallisieren lassen können.
Das ist nur die Erschöpfung - körperliche und emotionale Erschöpfung, sagte er sich, doch er glaubte es selbst nicht. Er wusste, dass es tiefer und weiter ging als nur das. Ebenso wie er wusste, dass jeder, der plötzlich die gleichen Zweifel hegte wie er selbst und der sich die gleichen Fragen stellte, die auch ihn jetzt bewegten, umgehend einen Berater oder Therapeuten aufsuchen sollte.
Und er wusste auch, dass er nichts dergleichen tun würde.
Kapitel 21
Letztendlich erwiesen sich die Sorgen, die sich Brice Miller und seine Freunde angesichts der Vorstellung machten, dem berüchtigten Jeremy X zu begegnen, als gänzlich unberechtigt. Als sie kurz nach ihrer Ankunft auf Torch dem gefürchteten, wilden Terroristen schließlich vorgestellt wurden, stellte sich heraus, dass die Wirklichkeit keinerlei Ähnlichkeit mit den Legenden besaß.
Zunächst einmal war er nicht zweieinhalb Meter groß, und er besaß auch ansonsten keinerlei körperliche Ähnlichkeit mit einem Oger. Zu Brice' Überraschung und Erleichterung war eigentlich eher das Gegenteil der Fall. Der ehemalige Anführer des Audubon Ballroom und derzeitige Kriegsminister von Torch war gerade einmal einhundertsechsundfünfzig Zentimeter groß, und sein Körperbau war drahtig und schlank, nicht bedrohlich-massig.
Zudem schien er ein recht fröhlicher Bursche zu sein. Man hätte seine Art als ›koboldhaft‹ bezeichnen können - zumindest, wenn man, wie Brice, erst kürzlich diesen Ausdruck kennengelernt hatte und aus welchen Gründen auch immer davon immens angetan war, sich aber zugleich zu wenig in der klassischen Literatur auskannte, um zu begreifen, dass ›koboldhaft‹ beileibe nicht das Gleiche bedeutete wie ›harmlos‹.
Jeremy X blickte sie auch nicht finster an. Nicht ein einziges Mal. Nicht einmal, nachdem Hugh Arai - deutlich unverblümter und präziser, als es nach Brice' Ansicht nötig gewesen wäre - erklärte, wie Brice' Clan auf Parmley Station das letzte halbe Jahrhundert hatte überleben können.
Sie standen in Queen Berrys Audienzzimmer - so wurde es zumindest genannt, auch wenn Brice fand, es sehe eher aus wie ein großes Büro ohne Schreibtisch, dafür aber mit
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