Jerry Cotton - 0528 - Ich gegen die Bestie von Long Island
beobachtet?«
Der Klang meiner Stimme und meine Gegenwart wirkten auf sie beruhigend. »Gesehen habe ich nichts«, murmelte sie, »aber gehört…«
Es fiel mir schwer, Geduld zu üben, denn möglicherweise zählte jetjit jede Sekunde, aber ehe ich etwas unternehmen konnte, mußte ich genau wissen, was sich ereignet hatte.
»Was haben Sie gehört?«
»Mr. Wells’ lauten Hilferuf und sein Röcheln! Ich habe kein Telefon in der Wohnung. Ich warf mir den Mantel über und wollte aus der Wohnung laufen, nach unten, zum Hausmeister. Dabei stieß ich auf Sie!«
»Ist ein Schuß gefallen?«
»Nein.«
»Hat das Apartment einen Balkon zum Hof? Gibt es eine Feuertreppe?«
Das Girl nickte. Das Sprechen machte ihm noch immer einige Mühe. Mit wenigen Schritten war ich in der Küche. Ich riß die Balkontür auf und trat ins Freie.
Ich sah, daß in der Nachbarwohnung in sämtlichen Räumen Licht brannte. Die meisten - Fenster standen offen. Ich drehte mich um. Neben dem Küchenschrank lehnte ein Bügelbrett. Ich schnappte es mir und trat damit auf den Balkon. Das Bügelbrett war gerade lang genug, um eine Verbindung zum Küchenbalkon der Nachbarwohnung herzustellen.
Hinter mir erschien das Girl auf der Türschwelle. Als es sah, was ich vorhatte, packte es das Brett mit beiden Händen fest an. »Ich werde Ihnen helfen, Sir!«
»Danke«, sagte ich und kletterte über das Brett auf den Balkon der Wellsschen Wohnung. Die Küchentür war geschlossen. Ich hämmerte mit der Faust dagegen und rief: »Hallo!« Niemand antwortete.
Ich drehte mich kurz um und durchstieß mit dem Ellenbogen das Fenster der Balkontür. Dann griff ich durch die entstandene Öffnung und legte den Hebel um. Sekunden später stand ich in der Küche. Ich durchmaß sie mit wenigen Schritten und erreichte die Diele. Die Tür zum Wohnzimmer stand weit offen.
Ich stoppte jäh, als ich die Schwelle erreicht hatte.
Wells lag vor der Couch auf dem Boden. Sein Gesicht war dem Teppich zugewandt. Eine Hand hatte er in der Polsterung der Couch verkrampft, die andere lag angewinkelt vor seinem Kopf. Aus einer Schläfenwunde sickerte Blut. Er rührte sich nicht und sah aus wie tot.
Ich gab mir einen Ruck. Als ich auf ihn zueilte, nahm ich plötzlich neben mir eine Bewegung wahr. Ich zuckte instinktiv herum, aber die Reaktion kam zu spät.
Ich sah nur noch einen maskierten Mann, der eine kurze schwingende Stahlrute auf mich niedersausen ließ. Am Ende der gefährlichen Schlagwaffe befand sich eine mit Leder bezogene Bleikugel.
Ein reißender Schmerz durchzuckte mich, als die Kugel meine Schulter traf. Ich brach in die Knie. Der zweite Schlag erwischte mich am Kopf. Ich kippte vornüber und merkte, wie mir die Sinne schwanden.
Als ich wieder zu mir kam, brauchte ich einige Sekunden, um das Geschehen zu rekonstruieren. Ich richtete den Oberkörper auf und stellte dabei fest, daß ich quer über Wells gefallen war. Ich faßte an meinen brummenden Schädel und merkte, wie meine Finger feucht und klebrig wurden. Ich zog sie zurück und stellte fest, daß sie blutig waren. Das Blut stammte allerdings nicht von mir. Es gehörte Wells. Ich hatte mit dem Kopf auf seiner Wunde gelegen.
Ich prüfte seinen Puls. Er schlug schwach, aber normal. Bei seiner Schläfenwunde handelte es sich um keine ernsthafte Verletzung. Er kam Sekunden später zu sich und starrte mich verwundert an.
Ich stand auf und schaute mich im Zimmer um. Es war recht geschmackvoll eingerichtet. Ein Schreibtisch, der genau unterhalb des Fensters stand, war durchwühlt worden. Die Schubladen standen offen. Ein Teil ihres Inhalts war über den Boden verstreut.
Wells kam wieder auf die Beine. Er torkelte aus dem Zimmer. Ich hörte, wie er im Bad die Hähne aufdrehte und einige unverständliche Worte vor sich hinmurmelte. Ich ging in die Küche und betrat den Balkon. Das Girl wartete auf dem Nachbarbalkon. Es hatte den Klagen des grünen Morgenmantels hochgestellt und zitterte vor Angst, Kälte und Erregung. »Ist er… tot?« stieß sie hervor.
»Nein, nein, es war nur ein kleiner Überfall«, beruhigte ich sie und stellte fest, daß die Feuertreppe direkt an Wells offenstehendem Schlafzimmer vorüberführte. »Ich komme in zehn Minuten zu Ihnen!«
Ich begab mich zurück ins Wohnzimmer und wartete auf Wells. Als er sich fünf Minuten später zeigte, klebte ein großes Heftpflaster auf seiner Schläfe. Er hielt ein Glas Wasser in seiner Hand und fragte mich mürrisch: »Wie kommen Sie in meine Wohnung,
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