Jerry Cotton - 0577 - Staatsempfang fuer einen Moerder
Brooklyn, 264 Hamilton Avenue, wohnte. Nora war nicht vorbestraft, aber das zuständige Polizeirevier kannte sie als ein Mädchen, das Männer und Lokale höchst zweifelhaften Rufes schätzte.
Ich beschloß, der jungen Dame einen Besuch abzustatten. Zunächst fuhr ich jedoch mit Phil zu Arnold Wyler, um bei der Testamentseröffnung zugegen zu sein. Wir verspäteten uns dabei um eine Vierteistunde, aber das war nicht schlimm, denn erwartungsgemäß fand sich Viola Lavola nicht ein.
»Mr. Harper rief vor einer halben Stunde an«, informierte uns der dunkel gekleidete Anwalt in seinem Privatbüro. »Er ist leider außerstande zu kommen, und bittet sie, ihn zu vertreten.«
Phil und ich setzten uns. Wyler entnahm einem großen, imponierend aussehendem Safe einen dicken verschnürten und mehrfach versiegelten Manilaumschlag.
Ehe er ihn öffnete, schob er sich eine markante Hornbrille auf die Nase. Sie ließ ihn würdevoll und gesetzt erscheinen. Etwas von dieser Wirkung färbte auch auf die Bewegungen ab, mit denen er die Siegel erbrach und den Umschlag öffnete.
Im Inneren des Umschlages befanden sich ein beschriebener Bogen Büttenpapier, und ein zweiter, gleichfalls versiegelter Umschlag.
Wyler überflog den Inhalt des Büttenbogens und betrachtete dann den Zweitumschlag. »Es ist für Miß Lavola bestimmt«, sagte er und nahm seine Brille ab »Mr. Ridge hat ihn an ' sie adressiert. Ich habe keine Ahnung, was der Umschlag enthält. Es ist nicht meine Aufgabe, diesen Punkt zu untersuchen. Ich bin lediglich verpflichtet, ihn Miß Lavola auszuhändigen.«
»Sie ist tot«, sagte ich.
Wyler rieb sich die Augen. »Das nehmen Sie an«, meinte er. »Ich brauche dafür Beweise.«
»Was geschieht, wenn man die Leiche des Mädchens findet?« wollte Phil wissen.
»Zunächst einmal müßte die Tote zweifelsfrei identifiziert werden«, erklärte Wyler. »Sollte es sich dabei tatsächlich um Miß Lavola handeln, wäre ich verpflichtet, den Umschlag an ihren nächsten Angehörigen weiterzuleiten.«
»Wer ist das?« fragte ich.
Wyler hob seine Schultern und ließ sie wieder fallen. »Das muß ich erst einmal herausfinden. Formaljuristisch ist der Fall sonnenklar. Solange nicht feststeht, daß die junge Dame tot ist, darf ich mich nicht von dem Umschlag trennen — auch dann nicht, wenn die Polizei oder das FBI glauben, daß sein Inhalt der Aufklärung des Verbrechens dienlich sein könnte.«
»Sie und wir wissen, daß eine Gangstergruppe hinter dem Umschlag her ist«, sagte ich. »Können Sie uns versichern, daß er weder gestohlen noch geraubt werden kann?«
Wyler hob beschwörend die Hände. »Wir sind ein angesehenes Unternehmen«, sagte er. »Wir haben alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen, um die Interessen unserer Klienten zu schützen. Der Safe, den Sie hinter mir sehen, gilt als absolut einbruchssicher. Er ist das modernste, was die Industrie zu bieten hat — und zugleich das teuerste«, fügte er seufzend hinzu.
»Das bezweifeln wir nicht«, meinte Phil. »Aber was gedenken Sie zu unternehmen, wenn mitten am Tage einige bewaffnete Gangster hereinspazieren und Sie dazu zwingen, ihnen den Safeinhalt auszuhändigen?«
»Das wäre eine Katastrophe«, meinte Wyler betroffen. »Auf solche Eventualfälle sind wir nicht vorbereitet. Was halten Sie davon, wenn ich den Umschlag in der Bank deponiere?«
»Eine gute Idee«, sagte ich. »Es wird am besten sein, wir bringen das Testament gleich hin. Mein Freund und ich begleiten Sie. Es könnte immerhin geschehen, daß man Sie beobachtet.«
»Einverstanden«, sagte Wyler. Er klingelte nach seinem Hut und Mantel.
Eine halbe Stunde später war alles erledigt. Vor der Bank verabschiedeten wir uns von dem Anwalt. Dann fuhren wir nach Brooklyn. Nora Cassels Mutter entpuppte sich als eine schlampige Mittvierzigerin mit stumpfen blonden Haaren und strahlenden, falschen Zähnen.
»Nora arbeitet bei Woolworth«, informierte sie uns. »Die Filiale liegt in der Clinton Street. Nora hat’s aber nicht gern, wenn ihre Freunde sie dort anquatschen. Der Geschäftsführer ist’n scharfer Hund. Ich glaube, der ist selber hinter Nora her. Deshalb reagiert er sauer auf Noras Besucher. Meine Tochter arbeitet übrigens in der Modeschmuckabteilung. Weil sie so hübsch ist!«
»Kennen Sie Noras Freund?« erkundigte ich mich.
»Nee«, antwortete Mrs. Cassel kopfschüttelnd. »Ich lege auch keinen Wert auf seine Bekanntschaft. Noras Verehrer reizen mich nicht.« Sie brachte ®in
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