Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
verbandelten Fürstentümern ging unter dem Namen Outremer (von französisch outre mer = jenseits des Meeres), »Übersee« in die Annalen ein.
In der – zwischen den geschwächten Kalifen des sunnitischen Bagdad und des schiitischen Kairo gespaltenen – islamischen Welt war die Reaktion erstaunlich verhalten. Nur wenige Prediger forderten einen Dschihad zur Befreiung Jerusalems, und die übermächtigen türkischen Emire reagierten kaum, da sie weiterhin vor allem mit ihren persönlichen Fehden beschäftigt waren.
Am 21. Dezember trafen Gottfrieds Bruder Balduin, Graf von Edessa, und der flachsblonde Prinz Bohemund von Antiochia zum Weihnachtsfest in Jerusalem ein. Zu dieser Zeit hatte Gottfried allerdings Mühe, sich gegen die Kirche zu behaupten. Der Vertreter des Papstes, ein überheblicher Pisaner namens Daimbert, wurde zum Patriarchen ernannt (und löste den sündigen Arnulf ab). Er war fest entschlossen, eine von ihm regierte Theokratie zu errichten, und zwang Gottfried, die Heilige Stadt und Jaffa an die Kirche abzutreten. Im Juni 1100 brach Gottfried in Jaffa vermutlich an Typhus zusammen. Man brachte ihn zurück nach Jerusalem, wo er am 18. Juli starb und fünf Tage später wie alle seine Nachfolger am Fuß des Kalvarienberges in der Grabeskirche beigesetzt wurde. [97]
Daimbert übernahm die Macht in der Stadt, aber Gottfrieds Ritter weigerten sich, die Zitadelle zu übergeben, und riefen stattdessen Balduin, den Bruder des verstorbenen Beschützers des Heiligen Grabes, herbei. Der Graf von Edessa verteidigte gerade den Norden Syriens und erhielt die Nachricht erst Ende August. Am 2. Oktober machte Balduin sich mit 200 Rittern und 700 Fußsoldaten auf den Weg, musste sich aber bis nach Jerusalem immer wieder islamischer Angriffe aus dem Hinterhalt erwehren. Am 9. November traf er endlich mit seinem Heer, das um mehr als die Hälfte reduziert war, in Jerusalem ein.
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Der Aufstieg von Outremer
1100 – 1131
Balduin der Grosse: der erste König von Jerusalem
Zwei Tage später wurde Balduin per Akklamation zum König erklärt, und Daimbert war gezwungen, ihn anzuerkennen. Unmittelbar danach unternahm er einen Feldzug gegen die Ägypter. Nach seiner Rückkehr krönte Patriarch Daimbert ihn in der Geburtskirche in Bethlehem zum »König der Lateiner in Jerusalem«.
Der erste König von Jerusalem war zwar nicht so heilig wie sein Bruder, aber erheblich fähiger. Balduin hatte eine Adlernase, helle Haut, dunkles Haar und einen Bart, eine vorstehende Oberlippe und ein leicht fliehendes Kinn. Als jungen Mann hatte man ihn auf den Priesterstand vorbereitet, und er verlor nie die kontemplative Haltung des Geistlichen und trug immer einen klerikalen Umhang um die Schultern. Er heiratete aus politischer Notwendigkeit, riskierte es aus Gründen der Zweckmäßigkeit, in Bigamie zu leben, hinterließ aber keine Kinder – möglicherweise vollzog er keine seiner Ehen. Allerdings war er »sehr den fleischlichen Lüsten ergeben, doch trieb er Alles, was er zur Befriedigung dieses Hanges that, so vorsichtig, daß niemand ein Ärgernis daran nahm«. Manche vermuten, er sei schwul gewesen, allerdings ist nicht bekannt, welcher Art seine kleinen Sünden waren.
Seine drängende Pflicht und wahre Leidenschaft war unermüdlicher Krieg. Sein Kaplan, Fulcher von Chartres, nannte ihn »den Arm seines Volkes, den Schrecken seiner Feinde«. Dieser drahtige Krieger von nahezu übermenschlicher Energie widmete sich nun der Aufgabe, das Königreich zu sichern und zu vergrößern, und kämpfte wiederholt bei Ramallah gegen die Ägypter. Einmal besiegten sie ihn, aber er entkam auf seinem Pferd Gasala an die Küste, wurde von einem englischen Piratenschiff aufgenommen und nach Jaffa gebracht. Dort sammelte er seine Ritter und schlug die Ägypter erneut. Sein Heer war mit vermutlich kaum mehr als 1000 Rittern und 5000 Fußsoldaten so klein, dass er örtliche Hilfstruppen rekrutierte, die sogenannten Turkopolen (unter denen sich vermutlich auch einige Muslime befanden). Als geschickter Diplomat spielte er die rivalisierenden muslimischen Führer gegeneinander aus und verbündete sich mit Flotten der Genueser, Venezianer und Engländer, um die palästinensische Küste von Cäsarea und Akko bis nach Beirut zu erobern.
In Jerusalem gelang es Balduin, den allzu mächtigen Daimbert als Patriarchen abzusetzen und damit die größte Bedrohung seiner Autorität zu besiegen. Die Bevölkerung Jerusalems hatten die Kreuzfahrer erbarmungslos
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