Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
empfand es Nikolaus so, als hätten sich die Protokolle der Weisen von Zion erfüllt. »Wie prophetisch!«, schrieb er. »Das Jahr 1905 war wahrhaftig von den Jüdischen Weisen beherrscht.« Gezwungen, eine Verfassung zu verabschieden, versuchte er seine angeschlagene Machtposition im Lande dadurch zu verbessern, dass er die nationalistischen Organisationen der sogenannten Schwarzen Hundert förderte, die zu den Hauptanstiftern von antisemitischen Pogromen und Terroraktionen gegen Revolutionäre gehörten.
Die Pogrome waren für David Grün, der sich der jüdischen Arbeiterpartei Paole Zion (Arbeiter Zions) angeschlossen hatte, der letzte Anstoß, sich auf einem der Dampfer einzuschiffen, die russische Pilger von Odessa ins Heilige Land brachten. Der junge Mann aus Płońsk war ein typischer Auswanderer der zweiten Aliya, die junge, weltlich eingestellte und vorwiegend sozialistische Pioniere nach Palästina brachte, für die Jerusalem ein Hort mittelalterlichen Aberglaubens war. Diese Siedler gründeten im Jahr 1909 in der Dünenlandschaft beim alten Hafen Jaffa die Stadt Tel Aviv, 1911 verwirklichten sie im Norden das Projekt eines landwirtschaftlichen Siedlungskollektivs – der erste Kibbuz war geboren.
Nach seiner Ankunft verdingte sich Grün als Landarbeiter in Galiläa; erst 1910 zog der mittlerweile Vierundzwanzigjährige nach Jerusalem, um für eine zionistische Zeitung zu schreiben. Hier nahm Grün, ein schlanker junger Mann mit krausem Haar und als Ausdruck seiner sozialistischen Gesinnung stets mit der Rubaschka bekleidet, das Pseudonym »Ben-Gurion« an, angelehnt an den Namen eines der Hauptleute von Simon bar Kochba. Die alte Russenbluse und der neue Name offenbarten die zwei Seiten des späteren Zionistenführers.
Wie die meisten Zionisten dieser Zeit, glaubte Ben-Gurion daran, dass ein sozialistischer jüdischer Staat gewaltfrei und ohne Unterdrückung oder Vertreibung der arabischen Bevölkerung in Palästina geschaffen werden könnte. Er war überzeugt, dass jüdisches und arabisches Proletariat zusammenarbeiten würden. Sowohl die Vilayets von Sidon und Damaskus als auch der Sanjak Jerusalem – wie Palästina damals bezeichnet wurde – waren bitterarme, mit insgesamt 600 000 arabischen Bewohnern sehr dünn besiedelte Provinzen. Da musste es Land genug für alle geben. Die Zionisten hofften, dass die arabische Bevölkerung die wirtschaftlichen Vorteile, in deren Genuss sie durch die jüdischen Einwanderer kamen, begrüßen würden. Doch es gab kaum Berührungspunkte zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Neuankömmlingen, und die Zionisten kamen gar nicht auf die Idee, dass die meisten Araber gerne auf die jüdischen Siedlungen samt den damit verbundenen Vorteilen verzichtet hätten.
In Jerusalem mietete Ben-Gurion ein fensterloses Kellerzimmer und verbrachte die Abende in den Cafés der Altstadt, wo er den arabischen Liedern lauschte, die unaufhörlich aus den Lautsprechern der Grammophone dröhnten. [160] Zur gleichen Zeit saß ein arabischer Christenjunge, ein gebürtiger Jerusalemer, der trotz seiner jungen Jahre schon den Sinnesfreuden und weiblicher Schönheit zugeneigt war, in den gleichen Cafés, hörte die gleichen Lieder und lernte, sie auf seiner Laute – oder Oud – zu spielen.
Wasif Jawhariyyeh hatte als Kind Laute spielen gelernt und galt schon bald als bester Oud-Spieler in einer Stadt, die für die Musik lebte. Dadurch standen ihm alle Türen offen, die der Armen ebenso wie die der Reichen. Er wurde 1897 als Sohn eines angesehenen griechisch-orthodoxen Stadtrats geboren, der mit den Notabelnfamilien auf bestem Fuß stand, war aber zu künstlerisch veranlagt, um eine Laufbahn als Würdenträger der Stadt einzuschlagen. Anfangs machte er auf Wunsch seiner Eltern eine Barbierlehre, die er aber nach kurzer Zeit abbrach, um Musiker zu werden. Wasif Jawhariyyeh, der alles sah und jeden kannte, von Jerusalemer Granden und osmanischen Paschas bis zu ägyptischen Sängerinnen, haschischrauchenden Musikern und promiskuitiven Jüdinnen, war der Oberschicht nützlich, aber doch nicht ganz dazugehörig und fing im Alter von sieben Jahren an, ein Tagebuch zu schreiben, das zu den Meisterwerken der Jerusalemer Literatur zählt. [224]
Zu der Zeit, als er mit dem Schreiben begann, legte sein Vater den Weg zur Arbeit noch auf einem weißen Esel zurück, aber auf der Jaffastraße begegnete ihm schon das erste Fahrzeug, ein Automobil der Marke Ford, das den amerikanischen
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