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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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Kolonisten gehörte. Der Junge, der zu Hause keinen elektrischen Strom kannte, sah sich mit Vorliebe die kinematographischen Vorführungen in der russischen Kolonie an (»freier Eintritt hieß, dass man an der Tür einen Bischlik zahlen musste«).
    Wasif liebte das bunte Kulturgemisch der Stadt. Als Sohn einer christlichen Familie, der die englische öffentliche St. George-Schule besuchte, studierte er auch den Koran und nahm an Picknickausflügen auf den Tempelberg teil. Sephardische Juden waren für ihn Yahud, awlad Arab, »Juden, Söhne der Araber«, und er verkleidete sich zum Purimfest, ging zum jährlichen Picknick am Grab Simons des Gerechten und sang, von Oud-Klängen und Tamburin-Rhythmen begleitet, andalusische Lieder. Einer seiner typischen Auftritte fand im Haus eines jüdischen Schneiders in einer der Montefiore-Siedlungen statt, wo er mit seiner Laute einen aschkenasischen Chor begleitete, der eine jüdische Version eines bekannten arabischen Liedes sang.
    1908 feierte man in Jerusalem die Revolution der Jungtürken, die dem tyrannischen Treiben Abdülhamids und seiner Geheimpolizei ein Ende setzte. Die Partei der Jungtürken, das Komitee für Einheit und Fortschritt, führte die Verfassung von 1876 wieder ein und rief zu Parlamentswahlen auf. Albert Antebi, ein Jerusalemer Geschäftsmann, der von seinen Anhängern Jüdischer Pascha und von seinen Gegnern Klein-Herodes genannt wurde, ließ in seinem Überschwang Hunderte von Broten an die feiernde Menge am Jaffator verteilen. Kinder spielten auf den Straßen Szenen aus dem Aufstand der Jungtürken nach.
    Die Araber glaubten sich endlich befreit von der osmanischen Tyrannei. Die arabischen Nationalisten waren sich in den Anfängen der Bewegung nicht einig, ob sie ein arabisches Königreich oder einen großsyrischen Staat anstreben sollten, aber dem libanesischen Autor Najib Azouri war nicht verborgen geblieben, dass sich die arabischen und die jüdischen Interessen in die gleiche Richtung bewegten – und darum zwangsläufig miteinander kollidieren mussten. Jerusalem wählte die Notabeln Uthman al-Husseini und Yusuf Khalidis Neffen Ruhi, einen Schriftsteller, Politiker und Mann von Welt, als Vertreter ins Parlament. In Istanbul übernahm Ruhi Khalidi das Amt des stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden und nutzte diese Machtposition, um gegen den Zionismus und jüdische Landkäufe zu agieren.
    Die führenden Familien der Stadt wurden immer reicher. Ihre Söhne besuchten wie Wasif die englische St. George-Schule, während die Töchter an der Husseini-Mädchenschule unterrichtet wurden. Die Frauen trugen jetzt neben der traditionellen arabischen Kleidung auch westliche Mode. Die englische Schule führte das Fußballspiel in Jerusalem ein: An jedem Samstagnachmittag wurde auf einem Feld außerhalb von Bab al-Sahra ein Spiel ausgetragen. Allen voran begeisterten sich die Söhne der Husseinis für den Fußball – manche spielten sogar mit Tarbusch. Vor dem Ersten Weltkrieg ging Wasif noch zur Schule, führte aber bereits ein sehr unkonventionelles Doppelleben. Er spielte auf seinem Oud und fungierte als Mittelsmann, Partygastgeber und Vertrauter und vielleicht auch als heimlicher Zuhälter für die Notabelnfamilien, die mittlerweile in ihren neuen Villen in Sheikh Jarrah wohnten. Die Herren der Familien hatten in der Regel eine kleine Junggesellenwohnung in der Stadt gemietet, in der sie Karten spielten und sich mit ihren Konkubinen vergnügten. Wasif erhielt die Zweitschlüssel für diese Wohnungen. Wasifs Gönner Hussein Efendi al-Husseini, der Sohn des Bürgermeisters, hatte in seinem seitlich der Jaffastraße gelegenen Liebesnest die schönste aller Konkubinen untergebracht, Persephone, eine griechisch-albanische, außerordentlich geschäftstüchtige Weißnäherin, die von hier aus einen Viehhandel betrieb und ihre eigene Marke eines Arzneiöls verkaufte. Persephone sang gerne, und der junge Wasif begleitete sie auf dem Oud. Als Hussein selbst Bürgermeister wurde, besorgte er einen geeigneten Ehemann für Persephone.
    Die Gespielinnen der Notabeln waren bisher vor allem Jüdinnen, Armenierinnen oder Griechinnen gewesen, aber nun fanden die Hedonisten Jerusalems reiche Beute unter den russischen Pilgerinnen, die zu Tausenden in die Stadt strömten. Wasifs Berichten zufolge veranstaltete er zusammen mit Ismail al-Husseini und dem späteren Bürgermeister Ragheb al-Nashashibi private Partys »für die russischen Damen«. Doch zu dieser Zeit geschah es,

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