Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
erkundete, weihte dieser die Erlöserkirche mit ihrem romanischen Turm ein, dessen Entwurf er persönlich abgesegnet hatte. Anlässlich eines Besuchs auf dem Tempelberg bat er, wie viele seiner Zeitgenossen ein begeisterter Hobbyarchäologe, den Mufti um Erlaubnis, Grabungen vornehmen zu dürfen, was Letzterer höflich, aber bestimmt ablehnte.
Als Herzl am 2. November endlich zur kaiserlichen Audienz gerufen wurde, waren die fünf Zionisten so nervös, dass einer von ihnen vorschlug, Brom einzunehmen. Angemessen herausgeputzt in Frack und Zylinder erreichten sie das kaiserliche Zeltlager nördlich des Damaskustores. Es war ein von Thomas Cook eingerichtetes Luxuszeltdorf mit 230 Zelten, zu deren Transport 120 Wagen, 100 Kutscher, 600 Treiber und 1300 Pferde benötigt wurden. Versorgt wurden die Reisenden von zwölf Köchen und 60 Kellnern, für ihre Sicherheit sorgte ein osmanisches Regiment. Es war, wie der Organisator der Reise, John Mason Cook, bemerkte, »die größte Gesellschaft, die Jerusalem seit den Kreuzfahrern besucht hat. Wir haben sämtliche Pferde und Fuhrwerke und fast alles Essbare im Land hierher geschafft.« Im Satiremagazin Punch wurde Wilhelm als »Cooks Kreuzritter« verspottet.
Der Kaiser empfing Herzl »in der grauen Kolonialuniform, den Schleierhelm auf dem Kopf, braune Handschuhe und – merkwürdigerweise – die Reitpeitsche in der Rechten«. Ein paar Schritte vom Eingang verbeugte er sich, worauf ihm der Kaiser »sehr freundlich die Hand entgegenstreckte« und erklärte: »Das Land braucht vor allem Wasser und Schatten. Das Land hat Platz für alle. Ihre Bewegung enthält einen gesunden Gedanken.« Auf Herzls Einwand, dass eine Wasserversorgung sichergestellt werden könne, aber sehr teuer sei, entgegnete der Kaiser: »Na, Geld haben Sie ja genug. Mehr Geld als wir alle.« Letztendlich verlief das Treffen, bei dem Herzl das Bild eines modernen Jerusalem entwarf, enttäuschend für die Zionisten, da die Antwort des Kaisers »weder Ja noch Nein« war.
Paradoxerweise fanden beide, sowohl der Kaiser als auch Herzl, Jerusalem abstoßend: »Ein trostloser, ausgetrockneter Steinhaufen«, schrieb Wilhelm, »gänzlich verdorben durch die vielen ganz modernen Vororte voller jüdischer Kolonisten. 60 000 von diesen Leuten waren da, schmierig, erbärmlich, kriechend und verkommen, die nichts zu tun haben außer ihren Nachbarn jeden schwer verdienten Groschen abzuknöpfen. Lauter Shylocks allesamt.« [221] Herzl hatte kaum eine bessere Meinung von der Stadt: »Wenn ich künftig deiner gedenke, Jerusalem, wird es nicht mit Vergnügen sein. Die dumpfen Niederschläge zweier Jahrtausende voll Unmenschlichkeit, Unduldsamkeit und Unreinlichkeit sitzen in den übelriechenden Gassen.« Und auch beim Besuch der Klagemauer wollte »tiefere Bewegung nicht aufkommen«.
Herzl träumte davon, Jerusalem, wenn es einmal den Zionisten gehöre, von allem Schmutz zu reinigen, die »dreckigen Rattenlöcher« abzureißen, rund um die heiligen Stätten eine ganz neue, saubere Stadt zu bauen und sie zum Kulturerbe zu machen wie Lourdes oder Mekka. Später zeigte er sich durchaus bereit, Jerusalem zu teilen: »Ich versprach eine weitgehende Exterritorialität. Die heiligen Stätten dürfen niemandem, müssen allen gehören.«
Während der Kaiser nach Damaskus weiterreiste, wo er sich zum Beschützer des Islam erklärte und Saladin ein neues Grab spendierte, glaubte Herzl in drei stattlichen jüdischen Portiers in Kaftanen die Zukunft zu erblicken: »Wenn wir 300 000 Juden wie diese hierherbringen können, wird Israel uns gehören.«
Aber Jerusalem war zu dieser Zeit ohnehin schon das eigentliche jüdische Zentrum in Palästina: 28 000 der 45 300 Bewohner der Stadt waren Juden, eine Entwicklung, die der arabischen Führung Sorgen bereitete. »Wer könnte die Rechte der Juden in Palästina bestreiten?«, schrieb der alternde Yusuf Khalidi 1899 in einem Brief an seinen Freund Zadok Khan, den Oberrabbiner von Frankreich. »Gott weiß, dass es historisch gesehen euer Land ist.« Dennoch schließe »die bittere Macht der Realität« eine Wiederansiedlung der Juden aus, da das Land bereits von Arabern besiedelt sei. In seinem Brief nahm Khalidi – Jerusalemer, Araber, Osmane und letztendlich Weltbürger – nicht nur den Gedanken eines palästinensischen Nationalstaats vorweg, sondern er zeigte auch die Notwendigkeit auf, die jüdischen Ansprüche auf Zion zurückzuweisen, weil er vorhersah, dass die Rückkehr der Juden, so
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