Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
dass sich ein ungewöhnlicher russischer Pilger über die Dekadenz und die Hurerei seiner Landsleute in Jerusalem beklagte. [161] Dieser ebenfalls für seine Genusssucht verschriene Mönch, der im März 1911 nach Jerusalem kam, war der geistige Ratgeber und der Trost des russischen Kaiserpaares, und nur er konnte deren an Hämophilie leidenden Sohn heilen.
Rasputin: Russische Nonnen, nehmt euch in acht
»Ich kann die freudigen Eindrücke nicht beschreiben; Tinte taugt nichts, wenn die Seele voller Freude singt: ›Lass Gott von den Toten auferstehen‹«, schrieb Grigori Rasputin, ein 44-jähriger sibirischer Bauer, der sich in einen Wanderheiligen verwandelt hatte. Er hatte Jerusalem 1903 zum ersten Mal als unbekannter Pilger besucht, und die beschwerliche Seereise von Odessa nach Jaffa, »im Frachtraum zusammengepfercht wie Vieh, bis zu 700 Menschen auf einmal«, war ihm in leidvoller Erinnerung geblieben. Doch seither war Rasputins Stern in der Welt aufgestiegen. Diesmal hatte Nikolaus II., der Rasputin seinen Freund nannte, die Pilgerreise finanziert, um den heiligen Sünder, der mit Prostituierten Orgien feierte und sich gelegentlich entblößte oder in Restaurants urinierte, aus der Schusslinie seiner zahlreichen Kritiker in Sankt Petersburg zu bringen. Rasputin war nun standesgemäß zu Gast in der Palastresidenz des orthodoxen Patriarchen von Jerusalem, hielt sich aber selbst für den Inbegriff des einfachen Pilgers und schwärmte von der »unfassbaren Freude« des Osterfestes: »Alles ist, wie es immer war. Die Menschen sind gekleidet wie in biblischen Zeiten, sie tragen die gleichen Mäntel und merkwürdigen Kleider wie im Alten Testament. Der Anblick rührt mich zu Tränen.« Und dann waren da noch der Sex und der Alkohol, beides Dinge, mit denen Rasputin sich bestens auskannte.
Es waren mehr als 10 000 Russen, die meisten von ihnen unkultivierte Bauern, die 1911 zum Osterfest in den immer zahlreicheren Schlafsälen der russischen Kolonie in Jerusalem Unterkunft fanden und in Großfürst Sergeis Maria-Magdalena-Kirche oder in der neuen Alexander-Newski-Kirche gleich neben der Grabeskirche beteten. [225] Diese Besucher brachten ihr Heimatland in Verruf: Schon viel früher hatte der russische Konsul Bischof Cyril Naumov als »Säufer und Hanswurst« bezeichnet, »der sich mit arabischen Komödianten und Weibsbildern umgibt«. Und über die Pilger wusste er zu berichten: »Viele von ihnen erliegen den mannigfaltigen Versuchungen und führen in Jerusalem ein Leben, das sich weder mit der Heiligkeit des Ortes noch mit den Zielen ihrer Pilgerfahrt vereinbaren lässt.«
Je mehr Pilger in die Stadt strömten, umso schwerer war es, die Schläger und Säufer unter ihnen in die Schranken zu weisen, und Rasputin ließ erkennen, wie sehr ihm die Katholiken und Armenier verhasst waren, ganz zu schweigen von den Muslimen. 1893 erschoss der russische Leibwächter eines reichen Pilgers einen römisch-katholischen Küster und drei weitere Personen, nachdem ein Katholik ihn gebeten hatte, ihm in der Kirche Platz zu machen. »Alkohol gibt es überall, er wird meist von den Nonnen hergestellt, und die Leute trinken ihn, weil er billig ist«, erklärte Rasputin. Schlimmer noch fand er angeblich die Promiskuität: Wie wir gesehen haben, ließen sich die russischen Damen nur zu gern zu den Partys der Notabeln einladen, und manche blieben als deren Geliebte in der Stadt. Rasputin wusste, wovon er sprach, als er die Mahnung ausgab:
Nonnen sollten nicht dorthin reisen! Die meisten von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt fern der Heiligen Stadt. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, jeder der dort war, weiß, wie viele Fehler unsere jungen Brüder und Schwestern begehen! Es ist sehr schwer für die jungen Frauen, sie werden gezwungen, länger zu bleiben, die Versuchung ist groß, der Feind [Katholiken? Muslime?] ist ungeheuer missgünstig. Viele von ihnen werden Konkubinen oder prostituieren sich. Es kommt vor, dass sie dir sagen, »wir haben unseren eigenen Gönner«, und dann setzen sie dich auch auf die Liste! [226]
Der Handel mit Liebesdiensten und Genussmitteln basierte auf Gegenseitigkeit. Stephen Graham, der britische Journalist, der etwa zur gleichen Zeit wie Rasputin mit einer Gruppe russischer Pilger unerkannt in Jerusalem weilte, schrieb: »Trotz der strengen Vorschriften verschafften sich arabische Frauen in der Osterwoche Zugang zu den Gästehäusern und verkauften den Bauern flaschenweise Gin und Cognac.
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