Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
die Straßen und verkündete laut schreiend, dass verkleidete Engländer den Felsendom aufgruben.
Der Mufti ließ die gesamte Nabi-Musa-Prozession umkehren und wetterte gegen diese verbrecherische Verschwörung der Briten und Osmanen. Eine wütende Menge eilte mit Verstärkung der Nabi-Musa-Pilger zur Rettung des höchsten Heiligtums herbei. Parker und seine Freunde retteten sich in gestrecktem Galopp nach Jaffa. Der aufgebrachte Mob aus Muslimen und Juden, dieses eine und einzige Mal in ihrer Empörung vereint, versuchte Scheich Khalil und Macasadar zu lynchen, die nur mit dem Leben davonkamen, weil sie von osmanischen Soldaten verhaftet und in die Garnison gebracht wurden. Später wurden sie ebenso wie Parkers Wachleute in Beirut inhaftiert. In Jaffa schaffte es Monty Parker gerade noch, an Bord der Water Lily zu gelangen. Doch die örtliche Polizei war vorgewarnt worden, dass er möglicherweise die Bundeslade mit sich führte. Sie durchsuchten ihn und sein Gepäck, konnten aber keine Lade finden. Parker, dem klar war, dass er das Weite suchen musste, lullte die osmanischen Polizisten ein, indem er ihnen den englischen Gentleman vorspielte, die Festbeleuchtung der Water Lily einschaltete und verkündete, dass er »zu Ehren der städtischen Vertreter von Jaffa einen Empfang an Bord« geben werde. Als sie sich anschickten, an Bord zu gehen, machte er die Leinen los und segelte von dannen.
In Jerusalem, wo sich unterdessen das Gerücht, Parker habe die Krone Salomos, die Bundeslade und das Schwert des Propheten Mohammed gestohlen, wie ein Lauffeuer verbreitete, drohte der Mob, dem Gouverneur und jedem Briten, der sich blicken ließ, den Garaus zu machen. Der Gouverneur versteckte sich in Todesangst. Am Morgen des 19. April war, wie die Londoner Times berichtete, »die ganze Stadt in Aufruhr, Läden blieben geschlossen, Bauern verließen Hals über Kopf die Stadt und Gerüchte machten die Runde«. Die Christen fürchteten, »mohammedanische Nabi-Musa-Pilger« würden kommen und »alle Christen ermorden«. Die Muslime ihrerseits waren starr vor Angst, weil sie glaubten, »8000 russische Pilger hätten sich bewaffnet, um die Mohammedaner zu massakrieren«. Und alle glaubten sie, die »salomonischen Insignien« seien auf »Parkers Yacht gebracht« worden.
Die Europäer blieben in ihren Häusern und verriegelten die Türen. »Die Wut der Menschen in Jerusalem war so groß«, schrieb Bertha Spafford, »dass in allen Straßen Wachen patrouillierten.« Am letzten Tag des Nabi-Musa-Festes, an dem 10 000 Jerusalemer auf den Tempelberg geströmt waren, kam es schließlich zu einer Massenpanik. »Bauersfrauen und Pilger drängten in Panik zu den Toren und schrien: ›Massaker!‹. Alle Familien bewaffneten sich und verbarrikadierten sich in ihren Häusern. In der langen Zeit, die wir in Jerusalem gelebt haben«, erklärte Spafford, »war die Gefahr eines christenfeindlichen Massakers nie so groß wie nach dem ›Parker-Fiasko‹.« Die New York Times verkündete der Welt in großer Aufmachung: »Mit Salomos Schatz verschwunden. Engländer machen sich nach Grabungen unter der Umar-Moschee mit dem Schiff aus dem Staub: ANGEBLICH HABEN SIE KÖNIGSKRONE GEFUNDEN. Türkische Regierung schickt für Untersuchung hochrangige Vertreter nach Jerusalem!«
Monty Parker, der den Ernst der Lage nicht erfasste, kehrte im Herbst noch einmal nach Jaffa zurück, wo man ihm aber untersagte, an Land zu gehen, weil es ansonsten »zu neuerlichen Unruhen kommen würde«. Er schrieb dem Syndikat, er werde »nach Beirut weiterreisen«, um den Inhaftierten einen Besuch abzustatten. Anschließend sollte es weitergehen: »Nach Jerusalem, um die Presse zu beschwichtigen und mit den Notabeln zu reden, damit Jerusalem ein bisschen zur Vernunft kommt. Wenn erst einmal Ruhe eingekehrt ist, den Gouverneur dazu bringen, dass er dem Großwesir schreibt und ihm mitteilt, dass wir gefahrlos zurückkehren können!« Jerusalem kam nie auch nur »ein bisschen zur Vernunft«, aber Parker bemühte sich noch bis 1914 unermüdlich weiter. [228]
Zwischen London und Istanbul kam es zu diplomatischen Spannungen, der Gouverneur von Jerusalem wurde seines Amtes enthoben, Parkers Komplizen wurden vor Gericht gestellt, aber freigesprochen (weil nichts gestohlen worden war), das Geld war futsch, der Schatz blieb ein Phantasiegebilde, und mit dem »Parker-Fiasko« senkte sich nach fünfzig Jahren der Vorhang über die archäologischen und imperialistischen Bestrebungen Europas
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