Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
dicht beieinander. Später freundeten sich die beiden ausgezeichneten Schriftsteller und Gegner jedes Fanatismus an. »Für Jerusalemer Familien wie die unsere bedeutete der Islam daher nichts anderes als …, wie ich später erfahren sollte, das Judentum für Amos Oz, der nur ein paar hundert Meter entfernt gleich jenseits des Niemandslandes lebte«, schrieb Nusseibeh. Die Jungen erlebten, wie Jerusalem sich durch einen neuen Einwandererstrom wieder einmal verwandelte. Die Araber, vor allem der Irak, rächten sich an ihren ortsansässigen jüdischen Gemeinden: 600 000 Juden wanderten nun nach Israel aus. Aber vor allem die Überlebenden der ultraorthodoxen Sekten, der Haredim (der »Gottesfürchtigen«), veränderten das Erscheinungsbild Jerusalems, indem sie die mitteleuropäische Kultur und Kleidung des 17. Jahrhunderts und den Glauben an mystisches, freudiges Gebet mitbrachten. »Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht auf die Straßen jenseits des Niemandlands spähte«, erinnerte sich Nusseibeh. Dort in Mea Shearim sah er »schwarz gekleidete Männer«, und manchmal »blickten die bärtigen Gestalten zu mir hoch«. Er fragte sich, wer diese Menschen sein mochten.
Die Haredim waren gespalten zwischen Befürwortern des Zionismus und vielen, die wie Toldot Haron in Mea Shearim eingefleischte Antizionisten waren. Ihrer Überzeugung nach konnte nur Gott den Tempel wiederaufbauen. Diese in sich gekehrten, strengen und auf Rituale bedachten Sekten teilten sich in Chassidim und Litauer, sprachen aber alle Jiddisch. Die Chassidim gliederten sich wiederum in zahlreiche Sekten, die aus sieben Hauptgruppen bestanden; an ihrer Spitze stand jeweils eine Dynastie, die von einem wundertätigen Rabbi, dem admor (einer Abkürzung von »Unser Meister und Rabbi«), abstammte. Ihre spezielle Kleidung und die geheimnisvollen Unterschiede zwischen den Sekten trugen zu den komplexen Verhältnissen im israelischen Jerusalem bei. [272]
Die Israelis bauten in Westjerusalem eine moderne Hauptstadt auf, eine heikle Mischung aus Säkularem und Religiösem. [273] Wie George Weidenfeld sich erinnert, war Israel sozialistisch und säkular. »Die High Society lebte in Tel Aviv, aber Jerusalem drehte sich um die Altstadt der Rabbis, die deutschen Intellektuellen von Revahia, die nach dem Essen in der Küche über Kunst und Politik diskutierten, und um die israelische Elite der hohen Staatsbeamten und Generäle wie Moshe Dayan.« Während Haredim ihr eigenes Leben führten, aßen säkulare Juden wie Weidenfeld im vornehmsten Restaurant Jerusalems, Fink, wo es nichtkoscheres Gulasch und Würstchen gab. Amos Oz fühlte sich unwohl in dieser kaleidoskopischen Stadt mit ihrer eigenwilligen Mischung aus restaurierten Altertümern und modernen Ruinen. »Kann man sich jemals zu Hause fühlen in Jerusalem, frage ich mich, selbst wenn man 100 Jahre hier gelebt hat«, überlegt er in seinem Roman Mein Michael , und stellt später fest: »Wendet man den Kopf, erblickt man unter all den hektischen Baustellen ein steiniges Feld. Olivenbäume. Eine öde Wildnis … Herden grasen um das neuerbaute Büro des Premierministers.« Oz verließ Jerusalem, aber Sari Nusseibeh blieb.
Am 23. Mai 1961 rief Ben-Gurion einen seiner jungen Assistenten, Yitzhak Yaacovy, in sein Büro. Der Premierminister schaute Yaacovy an: »Wissen Sie, wer Adolf Eichmann ist?«
»Nein«, antwortete Yaacovy.
»Er ist der Mann, der den Holocaust organisiert, Ihre Familie getötet und Sie nach Auschwitz deportiert hat«, erklärte Ben-Gurion, der wusste, dass Yaacovy als Kind orthodoxer ungarischer Eltern von SS-Obersturmbannführer Eichmann 1944 in das Todeslager geschickt worden war. Dort hatte er, vielleicht wegen seiner blonden Haare und blauen Augen, die Selektion überlebt, die die als Zwangsarbeiter eingesetzten Häftlinge von jenen schied, die sofort von dem SS-Mann Dr. Josef Mengele vergast wurden. Nach seiner Befreiung war Yaacovy nach Israel ausgewandert, hatte im Unabhängigkeitskrieg gekämpft, war verwundet worden und hatte sich in Jerusalem niedergelassen, wo er im Premierministeramt arbeitete.
»Heute werden Sie mit einem Wagen zur Knesset fahren und als mein Gast erleben, wie ich verkünde, dass wir Eichmann nach Jerusalem gebracht haben und vor Gericht stellen werden.«
Der israelische Geheimdienst Mossad hatte Eichmann aus seinem Versteck in Argentinien entführt, und im April 1961 begann der Prozess in einem Gericht in der Innenstadt Jerusalems. Er wurde im
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