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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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zum Kreuz, Frauen mit dem Gesicht zum Kreuz.
    Die Henker waren Experten darin, die Qual zu verlängern oder zu verkürzen. Das Ziel war nicht, Jesus schnell zu töten, sondern zu demonstrieren, dass Widerstand gegen die römische Macht sinnlos war. Höchstwahrscheinlich nagelte man ihn mit ausgebreiteten Armen ans Kreuz, wie es in der christlichen Kunst dargestellt ist; ein kleiner Keil, sedile , stützte das Hinterteil, und ein Sims, suppedaneum , die Füße. Auf diese Weise konnte der Gekreuzigte noch Stunden, wenn nicht gar Tage leben. Der schnellste Weg, den Tod herbeizuführen, bestand darin, dem Opfer die Beine zu brechen. Das Körpergewicht hing dann allein an den Armen, was innerhalb von zehn Minuten zum Tod durch Ersticken führte.
    Stunden vergingen; seine Feinde verspotteten ihn; Passanten lästerten. Seine Freundin Maria Magdalena, seine Mutter Maria und ein namenloser »Jünger, den er lieb hatte«, vielleicht sein Bruder Jakob, wachten bei ihm. Auch sein Unterstützer Joseph von Arimathäa besuchte ihn. Die Hitze nahm über Tag zu und wieder ab. »Mich dürstet«, sagte Jesus. Seine weiblichen Anhängerinnen tauchten einen Schwamm in Essig und Ysop und hoben ihn an einer Stange an seine Lippen, damit er daran saugen konnte. Manchmal schien er zu verzweifeln: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, rief er aus – und zitierte damit die passende Stelle aus Psalm 22. Aber was meinte er damit, dass Gott ihn verlassen habe? Erwartete Jesus, dass Gott das Ende der Welt losbrechen ließ?
    Als er schwächer wurde, sah er seine Mutter. »Frau, siehe, das ist dein Sohn«, sagte er und bat den geliebten Jünger, sich um sie zu kümmern. Wenn es sich um seinen Bruder handelte, ergab diese Bitte einen Sinn, denn der Jünger führte Maria weg, damit sie sich ausruhte. Mittlerweile hatte sich die Menge wohl zerstreut. Es wurde Nacht.
    Kreuzigung war ein langsamer Tod durch Hitzschlag, Hunger, Ersticken, Schock oder Durst, und Jesus blutete vermutlich von der Geißelung. Plötzlich stöhnte er, sagte: »Es ist vollbracht« und verlor das Bewusstsein. In Anbetracht der gespannten Lage in Jerusalem und des bevorstehenden Sabbats und Passahfestes muss Pilatus wohl seine Henker angewiesen haben, die Hinrichtung zu beschleunigen. Die Soldaten brachen den beiden Räubern oder Rebellen die Beine und ließen sie ersticken, als sie aber zu Jesus kamen, war er anscheinend bereits tot; »einer der Soldaten stieß mit dem Speer in seine Seite und sogleich kam Blut und Wasser heraus«. Tatsächlich könnte ihn dieser Speer getötet haben.
    Josef von Arimathäa eilte sofort zum Prätorium und bat Pilatus um die Leiche. Gewöhnlich ließ man Gekreuzigte als Fraß für die Geier am Kreuz hängen, aber Juden glaubten an eine zügige Beisetzung. Pilatus willigte ein.
    Juden begruben ihre Toten im 1. Jahrhundert n.Chr. nicht in der Erde, sondern legten sie, in ein Tuch gehüllt, in ein Felsengrab, das die Familien immer wieder besuchten, teils um zu überprüfen, ob die Verstorbenen tatsächlich tot und nicht nur in ein Koma gefallen waren: Es war zwar selten, kam aber durchaus vor, dass man einen »Toten« am nächsten Morgen wieder aufgewacht vorfand. Ein Jahr lang ließ man die Leichen verwesen und setzte die Knochen anschließend in einer Gebeinurne, einem sogenannten Ossuarium, das häufig mit dem Namen des Verstorbenen versehen wurde, in einem Felsengrab bei.
    Josef, die Familie Jesu und seine Jünger nahmen den Leichnam vom Kreuz, fanden in einem benachbarten Garten ein unbenutztes Grab und legten ihn hinein. Sie rieben ihn mit teuren Ölen ein und hüllten ihn in ein Grabtuch – wie man es in einem Grab südlich der Stadtmauer auf dem Blutacker mit Resten menschlicher Haare fand (anders als bei dem berühmten Turiner Grabtuch, das man mittlerweile auf 1260 bis 1390 datieren kann). Wahrscheinlich steht die heutige Grabeskirche tatsächlich am historischen Ort der Kreuzigung und der Grabstätte, da örtliche Christen die Überlieferung über die folgenden dreihundert Jahre lebendig hielten. Pilatus postierte auf Kaiphas’ Bitte Wachen vor dem Grab Jesu, »damit nicht seine Jünger kommen und ihn stehlen und zum Volk sagen: Er ist auferstanden von den Toten.«
    Bis zu diesem Punkt sind die Evangelien die einzige Quelle für die Geschichte der Passion Jesu – abgeleitet vom lateinischen patior , leiden –, es bedarf allerdings keines Glaubens, vom Leben und Tod eines jüdischen Propheten und Wunderheilers

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