Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Liebe zu seinen Mitmenschen: Er war durch und durch ein Jude. Doch dann warnte er die erregte Menge vor der bevorstehenden Apokalypse, die selbstverständlich in Jerusalem stattfinden würde: »Du bist nicht fern vom Reich Gottes.« Über die Ankunft des Messias herrschten unter den Juden zwar unterschiedliche Auffassungen, aber die meisten stimmten überein, dass Gott über das Ende der Welt wachen und danach das Reich des Messias in Jerusalem schaffen würde: »Posaunet in Zion mit der Lärmposaune für die Heiligen«, heißt es in den Psalmen Salomos, die kurz nach dem Tod Jesu entstanden, »laßt in Jerusalem des Siegesboten Stimme hören, denn Gott hat sich Israels erbarmt.« Daher fragten seine Anhänger Jesus: »Und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?« »Darum wachet; denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt«, antwortet er, schildert aber die kommende Apokalypse: »Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere; und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben«; schließlich werde man »sehen den Menschensohn kommen auf den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit«. Die flammende Einleitungsrede Jesu dürfte den römischen Präfekten und die oberen Priester ernstlich beunruhigt haben, die, wie er warnte, am Ende der Welt keine Gnade erwarten durften: »Ihr Schlangen, ihr Otternbrut! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?«
Zum Passahfest herrschte in Jerusalem immer Anspannung, aber dieses Mal war die Obrigkeit noch nervöser als sonst. In zwei wenig beachteten Sätzen erwähnen Markus und Lukas, dass es kurz zuvor einen galiläischen Aufstand in Jerusalem gegeben hatte, den Pilatus niedergeschlagen hatte; dabei hatte er 18 Galiläer am »Siloaturm« südlich des Tempels getötet. Einer der überlebenden Aufständischen, Barabbas, dem Jesus bald begegnen sollte, hatte »beim Aufstand einen Mord begangen«. Die Hohepriester beschlossen, kein Risiko mit einem weiteren Galiläer einzugehen, der ihre Vernichtung in einer bevorstehenden Apokalypse vorhersagte: Kaiphas und Annas, der einflussreiche ehemalige Hohepriester, erörteten, was zu tun sei. Im Johannesevangelium vertritt Kaiphas: »Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.« Sie schmiedeten ihre Pläne.
Am folgenden Tag bereitete Jesus das Obergemach – Zönakulum oder Coenaculum – auf dem Westhügel Jerusalems (später Berg Zion genannt) für das Passahmahl vor. Beim Abendmahl erfuhr Jesus irgendwie, dass sein Apostel Judas Iskariot ihn für dreißig Silberlinge verraten hatte, aber er änderte seine Pläne nicht, sondern ging durch die Stadt in die stillen Olivenhaine des Gartens Gethsemane auf der anderen Seite des Kidrontals, dem Tempel gegenüber. Judas schlich sich fort. Es ist nicht bekannt, ob er Jesus aus Prinzip verriet – weil er ihn zu radikal oder nicht radikal genug fand – oder aus Gier oder Neid.
Judas kam mit einem Aufgebot von hochrangigen Priestern, Tempelwachen und römischen Legionären zurück. Da Jesus im Dunkeln nicht auf Anhieb zu erkennen war, verriet Judas ihn durch einen Kuss und bekam sein Silber. In einem chaotischen Drama im Fackelschein zogen die Apostel ihre Schwerter, Petrus schlug einem Handlanger des Hohepriesters ein Ohr ab, und ein namenloser Junge flüchtete sich nackt in die Dunkelheit – ein so exzentrisches Detail, dass es wahr klingt. Jesus wurde verhaftet, und die Apostel zerstreuten sich in alle Winde, bis auf zwei, die in einigem Abstand folgten.
Mittlerweile war es nahezu Mitternacht. Römische Soldaten brachten Jesus an der Südmauer entlang durch das Siloator in die Oberstadt in den Palast des Annas, der grauen Eminenz der Stadt. [65] Annas dominierte Jerusalem und personifizierte das rigide, inzestuöse Netzwerk der Tempelfamilien. Er war selbst ehemaliger Hohepriester, Schwiegervater des amtierenden Hohepriesters Kaiphas und Vater von nicht weniger als fünf Söhnen, die das Amt des Hohepriesters bekleiden sollten. Aber die meisten Juden verachteten ihn und Kaiphas als käufliche, diebische Kollaborateure, deren Knechte »uns mit Stöcken schlagen«, wie ein jüdischer Text beklagte; ihre Rechtsprechung war eine korrupte Beutelschneiderei und Farce. Andererseits hatte Jesus im Volk einen Nerv getroffen und selbst im Sanhedrin Bewunderer gefunden. Daher musste der Prozess gegen diesen beliebten, furchtlosen Prediger geschickt und nachts
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