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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Provençalen.«
    »Gib auf ihn acht, Schönste«, sagte Berenger. »Er ist noch jung, aber bis Jerusalem hat er alles gelernt, was er können muss.«
    »Keine Sorge, Warägerfürst«, gab Chersala lachend zurück. »Ich helfe ihm dabei.«
    Berenger ruckte am Zügel, berührte die Flanken seines Rappen mit den Sporen und hob den Arm. Langsam ritt er in der Mitte der Straße nach Norden und drehte sich nicht ein einziges Mal um.
 
    Westwind, Südwind und Regen schmolzen den Schnee, ließen alle Quellen, Rinnsale, Bäche und den Drakon anschwellen. Zuerst begannen kleine weiße Blüten das Land wieder schneeweiß zu färben, dann blühte zum ersten Mal überall der Ginster, wie in der Provençe. Das Gebüsch unter den Föhren und Krüppeleichen wechselte die Farbe in ein leuchtendes Gelb. Die wärmende Sonne des Frühlings kletterte höher und erschien an jedem Morgen einige Fingerbreit weiter im Osten.
    Unter Rutgars Aufsicht und mit seiner Hilfe, mit den Ratschlägen des Priesters, Faroards und Vater Gautmars schrieb Chersala auf gekalktes Zickleinleder die Namen oder, wenn sie keinen wusste, den Weg nieder, auf dem Rutgar und sie die Dörfer oder die Weiler finden konnten. Entlang der Straße nach Nikaia und um die Stadt herum gab es etwa zweieinhalb Dutzend Siedlungen; nur vier davon kannte Rutgar von den Beutezügen der Plünderer.
    Rutgar hatte die zwölf Hyperpyrone, die in Berengers Beuteln enthalten gewesen waren, ausgesondert und ließ zehn davon in den Gurt, in seine Stiefel und in seinen Sattel einnähen. Zwei gab er Gautmar. Die Scheidemünzen verteilten sie in sechs kleine Ledersäckchen, drei für ihn, drei für Chersala. Lange dachte Rutgar darüber nach, ob er als verkleideter Seldschuke oder als fränkischer Ritter die Dörfler weniger erschrecken würde; er entschied sich für unauffälliges Leder und versteckte das Kettenhemd, nicht aber das Schwert. Chersala trug den Bogen und den gefüllten Köcher.
    Als die Pfade und Wege zu trocknen begannen, ritten sie los. Sie waren in den ersten Stunden allein; keine Händler, keine Jäger, kein Wanderer - um sie gab es nur Sonnenschein, hellgrün wuchernde Pflanzen und der Frühlingstaumel aller Geschöpfe unter dem leuchtenden Himmel.
    Dreiundfünfzig Tage und einige Nächte lang saßen sie im Sattel.
    In jedem Dorf - in einigen sahen sie noch die Spuren der räuberischen Ritter - berichteten sie von den Heeren und wiederholten Berengers Warnungen. Viele Dörfler glaubten ihnen; manche vermochten sich nicht vorzustellen, was hunderttausend bewaffnete Pilger anrichten konnten. Viele hielten Nikaia für uneinnehmbar und begannen sich schon jetzt vor dem Seldschukenheer zu fürchten.
    Rutgar berichtete, und Chersala übersetzte, wenn er nicht mehr weiterwusste: von Xerigordon, von der Schlucht, die voller Gebeine lag, von Civetot und von den Fremden, die das Land und die Sprache nicht kannten, aber den Hunger ihrer Tiere und den eigenen Hunger nur aus dem Land, den Herden und den Vorräten der Dörfer stillen konnten. Als alle Geldgeschenke des Basileus verteilt waren, ritten Rutgar und Chersala zurück nach Drakon; alles, was gesagt werden konnte, war gesagt worden.
    Ein erster Sommersturm wütete über dem Grenzland, bevor sie Drakon erreichten. Er brach Äste aus den Baumkronen, peitschte Büsche und Felsen und riss Herbstlaub und Blüten in die Höhe. Auf dem Meer und dem Wasser der langgezogenen Bucht türmten sich Wellen mit mächtigen Schaumkronen auf.
    Die Pferde und noch mehr die reitenden Boten waren erschöpft und brauchten Ruhe und Erholung, die nur in Drakon zu finden waren. Rutgar fiel in einen tiefen Schlaf, der fast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dauerte. Dann begann er, seine Kleidung und seine Habseligkeiten wieder instand zu setzen; vielleicht waren alle Warnungen zu früh ausgesprochen worden, denn von den Heeren der Kreuzfahrer war weit und breit nichts zu sehen.

 
 
 
Zweites Buch
 
Von Nikaia bis Jerusalem

Kapitel XVIII
 
A.D. 1097, 3. T AG IM W EIDEMOND (M AI ),
ZWISCHEN M ORGEN UND M ITTAG
D RAKON -P ASS , S TRASSE NACH N IKAIA
 
»›So wirst du kommen, von den Enden gegen Mitternacht, du und großes Volk mit dir, alle zu Pferd, ein großer Haufe und ein mächtiges Heer.«
(Hes 38,15)
 
    Am ersten Tag des Weidemonds hockte Rutgar, einen guten Bogenschuss weit über jenem Teil der Straße, die sich nach der Passhöhe nach Süden hin wieder senkte, zwischen Felsbrocken und Büschen versteckt. Vor einem Tag war das Heer,

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