Jerusalem
von Pelekanon kommend, aus Nikomedia hinausgeritten, wo sich der erste Heerzug mit zwei anderen Heeresteilen vereinigt hatte. Die Fischer und die Jäger des Dorfes hatten berichtet, dass ein Zug aus Menschen und Tieren, so unermesslich groß, dass sie nicht hatten zählen können, sein letztes Lager in Civetot verlassen und die Straße nach Nikaia betreten hatte.
Zwischen Rutgars Unterschlupf und der Straße erstreckte sich die Schlucht des Drakon, der zwar kein Hochwasser mehr führte, aber noch keine Furt zuließ. Obwohl Rutgar sich geschworen hatte, geduldig auszuharren, wartete er in steigender Unruhe auf die Spitze des Heeres - vielleicht erkannte er die eine oder andere Standarte oder Fahne. Wahrscheinlich erkannte er nichts und niemanden, zumal aus dieser Entfernung.
Gottfried von Bouillon hatte den Überlebenden von Civetot offensichtlich gut zugehört und handelte wie ein erfahrener Heerführer. Seit zwei Stunden ritten und kletterten Späher und Männer in landesüblicher Kleidung und Rüstung auf beiden Seiten des Engpasses durch Buschwerk und Wald; bisweilen rammten sie Kreuze aus weißem Holz als Wegweiser in den Boden und als Zeichen, dass jenseits der Knochenwälle keine Seldschuken lauerten.
Vieles, was Rutgar und Chersala auf ihrem beschwerlichen Ritt erfahren und gesehen hatten, war Rutgar völlig unbekannt gewesen. Es waren Nachrichten aus einer anderen Welt, in die er mit kleinen, tastenden Schritten eindrang. Gott, der Herr der Muslime, wurde von ihnen »Allah« geheißen. Vor vier Jahrhunderten hatte ein Prophet namens Mohammed im fernen Arabien die Gotteslehre verkündet, und ein Buch, dessen Text im Himmel hinterlegt war, das die Mohammedaner oder Muslime »Al-Kitab« nannten oder »Al-Qur'ān«, den »Koran«, war die Heilige Schrift derjenigen, die von den Christen als »Ungläubige« bezeichnet wurden. Das also waren die Feinde der Christenheit, die das Goldene Jerusalem besetzt hielten. Sie beteten fünfmal am Tag und waren ebenso gläubig wie jeder gute Christenmensch.
»Und ihr Reich soll viel größer sein als alle Länder der Christenheit zusammen«, murmelte Rutgar, als er zwischen den Bäumen schattenhaft die erste Gruppe der Ritter sehen konnte, die den Zug anführte. »Hat Papst Urban mit so vielen Feinden des wahren Glaubens gerechnet?«
Welch ein Unterschied zu dem wilden Haufen Peters des Eremiten!, dachte er und beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können. Eine Wurzel des Busches, an dem er sich festhielt, lockerte sich, und eine Handvoll Geröll prasselte abwärts und riss ein paar größere Brocken aus dem Felshang. Rutgar presste sich an den Boden und wagte lange Zeit nicht, den Kopf zu heben; das Poltern und Krachen der fallenden Steine hallte von den Wänden der Schlucht wider. Zwei Dutzend Atemzüge, nachdem die letzten Brocken zur Ruhe gekommen waren, schob Rutgar die Zweige vor seinen Augen zur Seite.
Hundert Lanzen mit funkelnden Spitzen reckten sich senkrecht zum Himmel. Hundert schwere, breitbugige Pferde mit prächtigem Zaumzeug und farbigen Schabracken stapften paarweise oder zu dritt nebeneinander. Ihre Hufe schlugen tief in den Sand des Weges. Hundert Ritter mit großen dreieckigen Schilden, in Helm und Kettenhemd, mit eisenbeschuppten Handschuhen und langen Reitermänteln über den Schultern saßen in den kantigen Kampfsätteln und folgten einem Standartenträger. Auf jedem Mantel und jedem Umhang leuchtete ein großes rotes Kreuz.
Jenseits der Passhöhe weitete sich die Straße. Es war wie im offenen Tor in Rutgars Träumen, wie die Große Pforte der Bibel, wie der Rachen des Tieres aus der Offenbarung, der ein Heer hervorwürgte. Rutgar fühlte, wie er sich verkrampfte, wie er alle seine Sinne anspannte, um alles sehen und sich jede Einzelheit merken zu können. Aus dem Rinnsal weniger Ritter, einem Gemenge aus Farben und Sonnenblitzen auf Metall und glänzenden Pferdeleibern, wurde ein breiter Strom, der sich kraftvoll und unaufhaltsam gen Nikaia wälzte.
Wahrscheinlich, sagte sich Rutgar, war es die Gruppe, die Gottfried von Bouillon anführte, denn er glaubte das Wappen vor Jahren in Lothringen gesehen zu haben. Der Mann ohne Lanze an der Seite Gottfrieds konnte Manuel Butumites sein, in dessen Gefolge vielleicht Berenger ritt; mehr war nicht zu erkennen.
Rutgar grinste in sich hinein. So wie ihn Berenger oft beobachtet hatte, betrachtete jetzt er die Waräger und die Kriegshandwerker. In guter Ordnung, ohne Geschrei und mit der Würde
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