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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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grölende Männer hielten eine langhaarige Frau, der sie die Kleider vom Leib gerissen und ein Tuch in den Mund gesteckt hatten, auf einem Schragen oder einem Tisch fest; der vierte, die Hosen bis zu den Knöcheln heruntergelassen, machte sich keuchend über die Frau her, die sich verzweifelt wehrte. Überall stank es nach brennendem Stroh, vergossenem Wein und warmem Blut.
    Mit Schwertstichen zwang ein Reiter einen Bauern, Enten und Hühner an den Beinen zusammenzuschnüren und zum wartenden Pferd zu schleppen. Ein zweites Haus brannte. Der Wind trug den Rauch des schmorenden Strohdachs die Dorfstraße entlang. Kriegsknechte schleppten Käselaibe aus den Scheunen, stopften sie in die Sattelsäcke und hängten ihren Pferden dick geflochtene Zwiebelzöpfe um die Hälse. Die Reiter rannten lachend mit ihrer Beute zwischen den Pferden und den Hütten hin und her. Vom Hund umkläfft, rannte und sprang eine Schafherde über die Dorfstraße. Vor den Ställen verfolgte ein Reiter im Galopp einen jungen Stier und stach ihm, als das Tier herumfuhr und sich zu wehren versuchte, die Lanze in den Leib. Ein zuckender Menschenkörper hing über einem Zaun und verblutete aus einem Dutzend Wunden; aus einem Haus rannte ein Reiter und stopfte goldblitzende Schmuckketten in sein Hemd.
    Dieses Dörfchen hatte keine Kirche, und so fehlten Turm und griechische Kreuze. Rutgar ritt zum Brunnen, stieg ab und nahm die Gebissstange aus dem Maul des Rappen. Während das Tier soff, blickte Rutgar sich um: Gottfried Burel hatte eine nackte, junge Frau an einen Balken des Vordachs gebunden und betastete ihre blutigen Brüste. Sie warf wimmernd den Kopf hin und her, ihr langes Haar flog um ihre Schläfen, als die Hände des Grafen sich zwischen ihre Schenkel zwängten.
    Ja, dachte Rutgar, es war so, wie Peter der Eremit es trotz seiner Einfalt vorhergesehen hatte. Binnen kurzer Zeit hatten Habsucht, Geilheit und Abenteuerlust die Furcht vor dem ewigen Höllenfeuer besiegt. Für ein paar Münzen des Basileus hätten sie von den Bauern alles kaufen können, was sie geraubt hatten, ohne jede Gewalt, aber der Teufel in den Herzen der Ritter wollte es anders. Er selbst hatte in der vergangenen Stunde gehandelt, ohne viel zu denken - er war frei von der Krankheit der Unvernunft, die er um sich herum erlebte.
    Er nickte den Reitern zu, die mit ihrer Beute, darunter einem Amboss und Schmiedewerkzeug, einige geraubte Esel und Maulesel beluden und, Walter Sans-Avoir an der Spitze, davontrabten. Als sich der Rappe sattgesoffen hatte, füllte Rutgar seinen Wassersack und trank selbst, brachte das Zaumzeug in Ordnung und wollte aufsitzen.
    »He, Grünauge!«, rief ihm ein Knecht zu. »Lass uns nicht alles von dem Zeug schleppen. Mitgeritten, mitgeschleppt!«
    »Gib her«, antwortete Rutgar und füllte seine Sattelsäcke mit Käselaiben, einem Arm voll scheibenförmigen, warmen Brotes und zwei versiegelten Krügen. Dann schob er die Fußspitzen in die Steigbügel und ruckte am Zügel. Das schwerbeladene Tier folgte in kurzem Trab den Reitern, die hinter Sans-Avoir unter den Obstbäumen verschwanden.
    Rutgar blickte über die Schulter zurück, sah die Brände und die Verwüstungen und schwor sich, in Zukunft die rastlosen Überfälle der Grafen aus sicherer Entfernung zu beobachten und, wenn er es rechtzeitig schaffte, die Dörfler zu warnen. Es stand für ihn fest, dass die gräflichen »katholischen« Raubritter zuerst die Dörfer der rechtgläubigen »orthodoxen« Christen in der Nähe überfallen und daraufhin ihre Raubzüge immer weiter ausdehnen würden, bis zu dem Tag, an dem das eigentliche Heer Urbans II. in Nikomedia landete. Aber er würde nicht tatenlos bleiben; wenn es ihm glückte, das Heilige Land zu erreichen, wollte er sich nicht vorwerfen müssen, dies mit dem Blut armer Bauern erkauft zu haben.
    Er löste das Kinnband und hob den Helm vom Kopf. Sein Haar klebte schweißnaß auf der Schädelhaut. Er wischte den Schweiß mit dem Handrücken aus den Augen und achtete darauf, dass er auf dem richtigen Pfad ritt.
    Mehr als zwei Stunden später erreichten die ersten Plünderer das Lager vor den Palisaden. Rutgar behielt den kleineren Teil der Beute, verteilte die Nahrungsmittel, sattelte ab, versorgte den Rappen und zog sich an seinen Platz im Schatten zurück.
 
    Kaum weniger als zwanzigtausend Pilger drängten sich innerhalb der Mauerreste und Palisaden Civetots. Rauch, Geschrei, Flüche und Gelächter, Schweiß und Bratengeruch mischten sich zu

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