Jerusalem
einer Wolke aus Gestank und Lärm, die stundenlang nicht vom Lager wich. Kinder und Frauen, Alte und Kranke, Priester und Bewaffnete, Schafe, Ziegen und Rinder bewegten sich durcheinander wie eine riesige Menge bunter Käfer auf einem Aas. Die Pilger trieben die Tiere aus dem Lager auf die kümmerlichen Weiden ringsum. In zwei, drei Tagen würde alles Grün verschwunden, jedes Blatt weggefressen sein.
Zwei schwere Gewitter waren die Südküste entlanggezogen und hatten die Festung mit ihren Bewohnern ebenso durchnässt wie die Segel der heimkehrenden Fischerboote, die man aus der Ferne sah. Stunden danach trieb die stinkende Hitze die wabernden Nebel der letzten Tage aus dem Boden und den Baumkronen.
Civetot war auf einem niedrigen Hügel gebaut worden. Mauern aus Bruchstein und Quadersteinen, seit eineinhalb Jahrzehnten von Gestrüpp überwuchert, erhoben sich in mehreren Stufen, darüber starrten die zugespitzten Palisaden. Die meisten Hölzer waren halb morsch, die runden Türme neben dem Tor würden einem Angriff kaum lange standhalten können. Das Tor hing schief in den Angeln, von den eisernen Beschlägen blätterte Rost. Die Dächer kleiner Hütten, die halb ins Erdreich hineingebaut waren, zeigten Löcher und waren von Moos bedeckt; an vielen Stellen hatten die Pilger angefangen, Dächer und Palisaden auszubessern und die Büsche zu roden. Überall herrschte drangvolle Enge, mit beißendem Rauch verbrannten unter den Wasserkesseln Äste und Blätter. Die Menschenmenge versuchte, innerhalb der Palisaden ihr Lager einzurichten; es schien, als fasse die morsche Festung die Tausende nicht.
Die Gruppen der Raubritter vergrößerten sich mit jedem Überfall und blieben länger aus. Von jedem Beutezug brachten sie Pferde mit, auch Frauen und Reitpferde. Ihre Beute änderte sich, und die Plünderer schienen sich ebenfalls zu verändern. Nun sahen sie, in Helmen und mit Waffen, für jedermann wie Räuber und Plünderer aus. Sie trugen ihre Vorstöße, nachdem sie Späher ausgeschickt hatten, in die Teile des Landes, die von den Seldschuken beherrscht wurden. Mitunter brachten die Plünderer Herdenvieh mit: Rinder, Schafe und Ziegen.
Je weiter die Dörfer von Civetot oder Nikomedia entfernt waren, desto reicher waren deren Bewohner. Die Raubritter kamen mit Silber, Gold und Schmuck zurück; was sie nicht behalten wollten, verkauften sie den griechischen Besatzungen der Schiffe aus Konstantinopel.
Rutgar folgte bisweilen den Plünderern, entdeckte Weggabelungen und Pfade, die in die Tiefe der Schluchten führten; Straßen, die niemand zu kennen schien und die im Nirgendwo endeten. Uralte, zusammengebrochene Brücken und die Stümpfe runder Türme. Von den Schiffern erfuhr er, dass Nikaia und die Festung Civetot, in der die Priester jeden Tag mehrere Messen lasen, nicht mehr als dreißig Meilen voneinander entfernt und die Straße zwischen ihnen breit genug für Seldschukenheere war.
Mit größter Behutsamkeit ritt Rutgar zwei Tage lang allein auf den versteckten Teilen der Straße - jenen Abschnitten, auf denen die fränkischen Plünderer noch nicht geritten waren. Er wagte nicht, in den Nächten Feuer zu machen. Am dritten Abend trabte Rutgar zum Strand, wo, ein gutes Stück vom Lager entfernt, ein kleiner Fluss ins Meer mündete, in dem er sein Pferd striegelte, bis zum Bauch im Wasser. Ein kurzer Pfiff: Berenger, nur das Schamtuch um die Hüften, ritt auf seinem ungesattelten Pferd an Rutgars Seite und sprang in die Wellen.
»Du hältst dein Wort, Franke!«, rief Berenger und tauchte prustend unter. Er schüttelte sich, strich das Wasser aus dem Gesicht und grinste Rutgar an. »Hast nicht mit den Plünderern gewütet. Was tust du ohne deinen Prediger?«
Rutgar fuhr fort, seinen Rappen zu striegeln, und antwortete: »Ich hab so getan, als wäre ich ein schrecklicher Franke. Aber was ich hier soll - eigentlich weiß ich es nicht.«
»Du reitest umher und merkst dir Weg und Steg, wie?«
»Die beste Weise«, sagte Rutgar und klaubte eine Klette aus dem Schweif seines Rappen, »das Land kennenzulernen. Und du? Du bist unsichtbar dort, wo die Raubritter hausen.«
»Das hat der Kaiser so verlangt«, bestätigte Berenger und begann sein Reittier mit Wasser zu überschütten und zu striegeln. Rutgar sah unter seiner sonnenbraunen Haut die Muskeln spielen und erkannte, dass der Waräger offenbar ein gewaltiger Krieger war; ein Dutzend Narben auf Brust, Rücken und Schultern schien Berengers Stärke zu beweisen. Zum
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