Jesses Maria - Hochzeitstag
Erwachsenen vor mir eine Sitzung gehabt hatten, wie meine Eltern das nannten. Meine Mutter sagte oft, drei Parteien für ein Klo seien zu viel. Ostermeiers von gegenüber hatten ein Klo und eine Badewanne für sich alleine in ihrer Wohnung. Sie konnten sich das leisten, weil „Ettchen“, so nannte meine Mutter die hübsche Frau Ostermeier, keine Blagen hatte und Avon-Beraterin war. Lange Zeit nahm ich an, dass zwischen Avon und Etagenklos ein direkter Zusammenhang bestand.
Eines Tages war meine Mutter nicht da, um mich ins Bett zu bringen. Meine Oma aus Minden kam zu Besuch und sagte, sie würde jetzt ein paar Tage bleiben. Das gefiel mir. Und dann kam meine Mutter wieder und brachte ein Baby mit. Dashatte ich nicht bestellt! Ich wünschte mir eine Puppe, eine wie die auf dem Paradekissen, aber doch kein Baby, mit dem man überhaupt nichts anfangen konnte. Ich durfte es nicht anfassen, nicht in meinen Puppenwagen legen und nicht auf den Arm nehmen. Ich wollte nicht, dass es da war. Ich fand es doof, dass sie es einfach mitbrachte und sagte: „Das ist dein Brüderchen, und das musst du schön lieb haben.“
Als das Brüderchen schon eine Weile da war, lag es mal nackig auf dem Küchentisch und wurde von meiner Mutter gewickelt. Es klingelte.
„Pass mal auf das Baby auf, Maria, ich muss an die Tür. Pass auf, dass es nicht runterfällt!“
Meine Mutter lief hinaus. Ich ging zum Tisch und sah es mir mal genau an. Das Brüderchen strampelte mit seinen Speckbeinchen und lachte. Er hatte nicht mal Zähne. Aber goldene Locken. Und blaue Kulleraugen. Er sah ein bisschen aus wie der dicke Engel in meinem Weihnachtsbilderbuch. Er roch gut. Nach Seife und Penatencreme. Ich nahm seinen kleinen Fuß und biss zu.
Einen Moment war es still, dann brüllte er so laut wie noch nie. Ich schmeckte Blut, ekelte mich, kroch unter den Tisch und hielt mir die Ohren zu. Meine Mutter kam zurück.
„Ach, mein Kleiner, was ist denn hier passiert?“
Sie bückte sich, sah mich unter dem Tisch hocken, ich starrte auf den Boden und sagte keinen Piep. „Wir sprechen uns noch, mein Frollein!“, sagte sie. Ich rührte mich nicht. Sie wiegte ihn auf dem Arm und streichelte seinen Rücken. Ich sah ihre Hand in seinen Locken. Er hatte sein Köpfchen anihre Schulter gelegt und jammerte leise in den bunten Stoff ihres Kittels.
Sie sang. „Weißt du, wie viel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt…“ Das war mein Schlaflied, meins! Ich bekam dieses scharfe Bauchweh, das ich heute noch habe, wenn ich eifersüchtig bin. Jetzt kamen mir doch die Tränen. Und diesen Drang, jemanden zu beißen oder ihm den Hals umzudrehen, den hab ich bis heute. Da sieht man mal, wie man als Dreijährige geprägt wird und wie lange so ein Erlebnis unvergessen ist. Meine Eifersucht hab ich nie in den Griff gekriegt. Auch bei Manni war das später oft ein Drama. Natürlich hab ich den nie in den Fuß gebissen, um Gottes willen!
Manni hatte solche Käsemauken, dass ich ihm im Bad einen Plastikeimer mit fest verschließbarem Deckel unters Waschbecken gestellt hatte. Wenn Manni von der Arbeit kam, zog er zuerst seine Socken aus. Und wenn die offen im Wäschekorb gelegen hätten, das hätte keiner ausgehalten. Außerdem wäre der Mief dann in die ganze andere Wäsche gezogen. Deswegen also der Sockeneimer. Wie kam ich da jetzt drauf? Ach so, mein Bruder, der Fuß und die Eifersucht. Damals dachte ich oft, dass alles schöner gewesen war, bevor sie das Baby mitgebracht hatten. Meine Mutter ging mit mir morgens zum Kindergarten und holte mich mittags wieder ab. Dann hüpfte ich an ihrer Hand und plapperte, denn es gab jeden Tag so viel zu erzählen. „Du schnatterst wie Körtners Gänse. Kannst du nicht mal fünf Minuten die Klappe halten?“, sagte meine Mutter oft, aber sie schmunzelte dabei.
„Tante Else und Tante Meier haben gesagt, man muss sich immer die Hände waschen, bevor man isst und man mussbeten: Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“, verkündete ich stolz. Seither betete meine Mutter jeden Abend mit mir, und das klang dann so: „Lieber-Gott-mach-mich-fromm-dass-ich-in-den-Himmelkomm-amen-Nacht-Mama.“
Nachmittags bauten wir manchmal mit Legosteinen. Wenn mein Vater von der Arbeit kam, zeigten wir ihm einen Turm oder ein Haus oder eine Windmühle.
„Tjunge, Tjunge, ihr habt wohl den ganzen Tag nix zu tun!“, sagte er dann und schüttelte den Kopf. Er sagte nicht, ob er unser Gebautes schön fand, er
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